Entscheidungsstichwort (Thema)
Eisenbahndienstzeit. Verpflichtung zu inoffizieller Mitarbeit
Leitsatz (redaktionell)
vgl. Senatsurteile vom 29. Januar 1998 – 6 AZR 360/96 –, – 6 AZR 507/96 – und – 6 AZR 300/96 – jeweils zur Veröffentlichung vorgesehen
Normenkette
TVG § 1 Tarifverträge: DDR
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision des beklagten Bundeseisenbahnvermögens wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 18. Juli 1996 – 1 Sa 9/96 – aufgehoben.
2. Auf die Berufung des beklagten Bundeseisenbahnvermögens wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bertin vom 8. Dezember 1995 – 86 Ca 23872/95 – abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
3. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin gegen das Bundeseisenbahnvermögen einen Anspruch auf Zahlung einer Abfindung hat nach der von der Deutschen Reichsbahn mit Wirkung zum 20. Juli 1993 einseitig in Kraft gesetzten Regelung, bezeichnet als „Übertarifliche Regelung zur Gewährung einer Abfindung für Eisenbahner, die freiwillig aus dem Arbeitsverhältnis mit der DR ausscheiden” (im folgenden: Übertarifliche Regelung). Nach dieser Übertariflichen Regelung erhalten ausscheidende Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen, in Abhängigkeit von erreichtem Lebensalter und allgemeiner Dienstzeit, eine einmalige Abfindung von höchstens 20.000,00 DM.
Die am 9. März 1938 geborene Klägerin war seit dem 1. September 1952 bei der Deutschen Reichsbahn als angestellte Eisenbahnerin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch einen mit Wirkung zum 31. Dezember 1993 abgeschlossenen Aufhebungsvertrag. Auf das Arbeitsverhältnis fand der Tarifvertrag für die Angestellten der Deutschen Reichsbahn vom 1. Juli 1991 in der Fassung des Änderungstarifvertrags II/91 DR vom 18. Mai 1992 (AnTV-DR) Anwendung. Die Dienstzeitberechnung der Klägerin richtet sich nach § 12 AnTV-DR. Dieser enthält – soweit hier von Bedeutung – folgende Regelung:
„(1)1. Eisenbahndienstzeit (Beschäftigungszeit) ist die in einem Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis bei der Deutschen Reichsbahn zurückgelegte Zeit.
…
2. …
3. …
4. Von der Berücksichtigung als Eisenbahndienstzeit(Beschäftigungszeit) sind ausgeschlossen
- Zeiten jeglicher Tätigkeiten für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit (einschließlich der Verpflichtung zu informeller/inoffizieller Mitarbeit),
- Zeiten einer Tätigkeit als Angehöriger der Grenztruppen der DDR (AB 2),
Zeiten einer Tätigkeit bei der Deutschen Reichsbahn, die aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe übertragen worden war.
Die Übertragung der Tätigkeit aufgrund einer besonderen persönlichen Systemnähe wird insbesondere vermutet, wenn der Angestellte
aa) vor oder bei der Übertragung der Tätigkeit eine hauptamtliche oder hervorgehobene ehrenamtliche Funktion in der SED, dem FDGB, der FDJ oder einer vergleichbar systemunterstützenden Partei oder Organisation inne hatte,
bb) als obere oder mittlere Führungskraft in zentralen Staatsorganen, als obere Führungskraft des Rates des Bezirkes, als Vorsitzender des Rates des Kreises oder einer kreisfreien Stadt (Oberbürgermeister) oder in einer vergleichbaren Funktion tätig war oder
cc) hauptamtlich Lehrender an den Bildungseinrichtungen der staatstragenden Parteien oder einer Massen- oder gesellschaftlichen Organisation war oder
dd) Absolvent der Akademie für Staat und Recht oder einer vergleichbaren Bildungseinrichtung ist.
Der Angestellte kann die Vermutung widerlegen.
Von einer Berücksichtigung als Eisenbahndienstzeit (Beschäftigungszeit) ausgeschlossen sind auch solche Zeiten, die vor einer Tätigkeit im Sinne der Buchstaben a) bis c) zurückgelegt worden sind.
(2) 1. Die allgemeine Dienstzeit umfaßt die Eisenbahndienstzeit (Beschäftigungszeit nach Abs. 1) und die nach der Nrn. 2 bis 6 anzurechnenden Zeiten, soweit diese nicht schon als Eisenbahndienstzeit (Beschäftigungszeit) berücksichtigt sind.
Die Deutsche Reichsbahn teilte mit Schreiben vom 9. Dezember 1993 mit, daß die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Abfindung nicht erfüllt seien. Sie stützte sich dabei auf die Auskunft des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (fortan: Bundesbeauftragter). Danach war die Klägerin entgegen ihrer gegenüber der Deutschen Reichsbahn abgegebenen Erklärung vom 18. Juni 1991, wonach sie nie für das MfS tätig gewesen sei, aufgrund einer handschriftlichen Verpflichtungserklärung vom 28. November 1985 bis zur Auflösung des MfS als „inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit (IMS)” unter dem von ihr selbst gewählten Decknamen „Elke Sommer” tätig. Die Deutsche Reichsbahn schloß die vor dem 1. April 1990 zurückgelegte Zeit der Beschäftigung von der Berücksichtigung als Eisenbahndienstzeit der Klägerin nach § 12 Abs. 1 AnTV-DR aus und lehnte einen Anspruch der Klägerin auf Abfindung wegen Nichterreichens der erforderlichen Mindestdienstzeit von fünf Jahren ab.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie habe gegen das beklagte Bundeseisenbahnvermögen einen Anspruch auf Zahlung einer Abfindung in Höhe von 20.000,00 DM. Ihre Tätigkeit für das MfS in der Zeit von 1985 bis 1987 sei untergeordneter Natur gewesen und könne nicht zu einem Ausschluß des Anspruchs auf Abfindung führen. Soweit § 12 Abs. 1 Nr. 4 letzter Unterabsatz AnTV-DR die vor 1985 zurückgelegte Zeit (Vordienstzeiten) von der Berücksichtigung als Eisenbahndienstzeit ausschließe, sei die Tarifbestimmung verfassungswidrig. Die für den Anspruch auf Abfindung erforderliche Mindestdienstzeit von fünf Jahren sei erfüllt, da sie nach dem 24. November 1987 keine Tätigkeit mehr für das MfS ausgeübt habe.
Die Klägerin hat beantragt,
das beklagte Bundeseisenbahnvermögen zu verurteilen, an sie 20.000,00 DM brutto für netto zuzüglich 4 % Zinsen seit dem 1. Januar 1995 zu zahlen.
Das beklagte Bundeseisenbahnvermögen hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Abfindung, da nach den tariflichen Bestimmungen keine anrechenbare Dienstzeit von mindestens fünf Jahren vorliege. Die Klägerin habe ihre Tätigkeit für das MfS auch nicht im November 1987 beendet, sondern sei bis zur Auflösung des MfS tätig gewesen. Für eine Tätigkeit im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AnTV-DR genüge bereits die Abgabe der Verpflichtungserklärung vom 28. November 1985 durch die Klägerin. Von dieser Verpflichtung sei die Klägerin zu keinem Zeitpunkt entbunden worden.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des beklagten Bundeseisenbahnvermögens zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt das beklagte Bundeseisenbahnvermögen weiterhin seinen Antrag auf Klageabweisung. Die Klägerin bittet, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt unter Aufhebung des berufungsgerichtlichen Urteils und Abänderung des erstinstanzlichen Urteils zur Klageabweisung.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin habe gegen das beklagte Bundeseisenbahnvermögen nach den Bestimmungen der Übertariflichen Regelung einen Anspruch auf Zahlung einer Abfindung mit dem Höchstbetrag von 20.000,00 DM. Die für eine Abfindung in dieser Höhe erforderliche Dienstzeit habe die Klägerin zurückgelegt. Soweit die Tarifbestimmung in § 12 Abs. 1 Nr. 4 letzter Unterabsatz AnTV-DR Zeiten vor einer Tätigkeit für das MfS von der allgemeinen Dienstzeitberechnung ausschließe, verstoße sie gegen Art. 3 Abs. 1 GG, da hiervon betroffene Arbeitnehmer ohne sachlichen Grund ungünstiger behandelt würden als sonstige Dienstkräfte. Da die Klägerin aufgrund berücksichtigungsfähiger Vordienstzeiten die in ihrem Fall für den Anspruch auf Abfindung mit dem Höchstbetrag erforderlichen 19 Dienstjahre zurückgelegt habe, könne die Berücksichtigung der Zeit vom 25. November 1987 bis zum 1. April 1990 dahingestellt bleiben.
Diesen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts vermag der Senat nicht zu folgen.
II. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen das beklagte Bundeseisenbahnvermögen keinen Anspruch auf Zahlung einer Abfindung aufgrund der Übertariflichen Regelung vom 20. Juli 1993. Nach Ziff. 1 dieser Regelung ist Voraussetzung für einen Anspruch auf Abfindung, daß der Arbeitnehmer eine allgemeine Dienstzeit von mindestens fünf Jahren aufweist. Diese Voraussetzung erfüllt die Klägerin nicht.
1. Die Zeit vom 28. November 1985 bis zum 24. November 1987 ist nach § 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AnTV-DR von der Berücksichtigung als Eisenbahndienstzeit ausgeschlossen. Während dieser Zeit war die Klägerin unstreitig als IMS für das MfS tätig. Ihr Einwand, sie habe sich in diesem Zeitraum nur fünfmal mit einem Führungsoffizier des MfS getroffen und nur Tätigkeiten untergeordneter Natur ausgeübt, ist unerheblich. Der Senat hat in seinem Urteil vom 29. Januar 1998 (– 6 AZR 360/96 – zur Veröffentlichung vorgesehen, zu den insoweit inhaltsgleichen Übergangsvorschriften Nr. 1 Buchst. a letzter Satz zu § 16 TVAng-O unter Fortführung seiner Rechtsprechung aus dem Urteil vom 29. Februar 1996 – 6 AZR 381/95 – AP Nr. 1 zu § 16 TV Ang Bundespost, zu I 2 b aa der Gründe) klargestellt, daß in objektiver Hinsicht jede Tätigkeit des Arbeitnehmers für das MfS genügt, ohne daß es auf deren Art und Umfang ankommt. In subjektiver Hinsicht verlangt der tarifliche Ausschlußtatbestand ein bewußtes und gewolltes Tätigwerden des Arbeitnehmers. Unerheblich ist, ob die Tätigkeit aus Sicht des Arbeitnehmers unbedeutend war. Auch eine besondere Unterstützungsabsicht ist nicht erforderlich (vgl. Senatsurteil vom 29. Januar 1998, aaO).
2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die Zeit vom 1. September 1952 bis zum 27. November 1985, die die Klägerin in einem Arbeitsverhältnis zur Deutschen Reichsbahn vor der Zeit ihrer Tätigkeit für das MfS zurückgelegt hat, nach § 12 Abs. 1 Nr. 4 letzter Unterabsatz AnTV-DR von der Berücksichtigung als Eisenbahndienstzeit ausgeschlossen (vgl. BAGE 83, 149 = AP Nr. 9 zu § 19 BAT-O zu den inhaltsgleichen Übergangsvorschriften Nr. 4 Buchst. c letzter Satz zu § 19 BAT-O). Diese zum Ausschlußtatbestand der besonderen Systemnähe ergangene Entscheidung hat der Senat in den Urteilen vom 29. Januar 1998 (– 6 AZR 423/96 – n.v. und – 6 AZR 507/96 – zur Veröffentlichung vorgesehen) und vom heutigen Tag (– 6 AZR 548/96 – n.v.), zum Ausschlußtatbestand wegen Tätigkeit für das MfS nach Nr. 1 Übergangsvorschriften zu § 16 TV Ang-O auch für diesen Ausschlußtatbestand ausdrücklich bestätigt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die genannten Senatsentscheidungen Bezug genommen.
3. Auch die Zeit vom 25. November 1987 bis zum 31. März 1990 ist nach § 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AnTV-DR von der Berücksichtigung als Eisenbahndienstzeit ausgeschlossen, weil die von der Klägerin abgegebene Verpflichtung zu informeller/inoffizieller Mitarbeit fortbestanden hat.
a) Nach der Rechtsprechung des Senats (BAG Urteile vom 29. Januar 1998 – 6 AZR 300/96 – und – 6 AZR 507/96 – beide zur Veröffentlichung vorgesehen, zu den insoweit inhaltsgleichen Übergangsvorschriften Nr. 1 Buchst. a letzter Satz zu § 16 TVAng-O) ist der Klammerzusatz „einschließlich der Verpflichtung zur informeller/inoffizieller Mitarbeit” nach seinem Wortlaut und seinem Sinn und Zweck dahingehend auszulegen, daß auch Zeiten von der Berücksichtigung als Dienstzeit ausgeschlossen sind, während derer sich der Angestellte zu einer inoffiziellen Mitarbeit gegenüber dem MfS verpflichtet hatte. Allerdings folgt aus der Gleichstellung der Verpflichtung zu inoffizieller Mitarbeit und einer Tätigkeit für das MfS durch den Klammerzusatz, daß an die Verpflichtung die gleichen Anforderungen zu stellen sind wie an eine Tätigkeit für das MfS. Die Verpflichtung muß also vom Angestellten bewußt und gewollt abgegeben worden sein.
b) Die Klägerin hat die Verpflichtungserklärung auch bewußt und gewollt abgegeben. Sie hat am 28. November 1985 eine Verpflichtungserklärung handschriftlich angefertigt und eigenhändig unterschrieben. Darin hat sie sich „zur Zusammenarbeit mit dem MfS” verpflichtet. Sie hat zugesichert, „strengstes Stillschweigen (zu) bewahren”, „offen und ehrlich (zu) berichten” und bei einem Abreißen der Verbindung diese selbst wieder aufzunehmen. Sie hat ferner die Wahl des Decknamens „Elke Sommer” und die erfolgte Belehrung über die „Einhaltung der Konspiration und Geheimhaltung” bestätigt.
c) Die IMS-Erfassung endete nach dem Bericht des Bundesbeauftragten mit der Auflösung des MfS. Tatsachen, die auf eine frühere Beendigung der Tätigkeit für das MfS schließen lassen, hat die Klägerin demgegenüber nicht substantiiert vorgetragen.
Zwar ist das beklagte Bundeseisenbahnvermögen für das Vorliegen eines Ausschlußtatbestandes nach § 12 Nr. 4 letzter Satz AnTV-DR und dessen Dauer darlegungs- und beweispflichtig. Dabei kann es sich zunächst auf einen Hinweis auf den Bericht des Bundesbeauftragten beschränken, soweit sich aus diesem die Dauer einer Tätigkeit des Arbeitnehmers für das MfS ergibt. Der Arbeitnehmer muß dann den sich aus den Akten des Bundesbeauftragten ergebenden Sachverhalt substantiiert bestreiten, um dem Arbeitgeber die Möglichkeit zum weiteren Sachvortrag zu geben (vgl. Senatsurteile vom 29. Januar 1998 – 6 AZR 360/96 – zur Veröffentlichung vorgesehen und vom 29. Februar 1996 – 6 AZR 381/95 – AP Nr. 1 zu § 16 TV Ang Bundespost). Bestreitet der Angestellte, wie vorliegend die Klägerin, nur den Zeitpunkt der Beendigung der Tätigkeit für das MfS, so muß sie substantiiert Tatsachen vortragen, die den Schluß auf einen früheren Beendigungszeitpunkt als den aus den Akten des Bundesbeauftragten ersichtlichen zulassen. Daran fehlt es vorliegend.
Für den Ausschlußtatbestand der Verpflichtung im Sinne des Klammerzusatzes bedeutet dies, daß die Klägerin im einzelnen darlegen und beweisen muß, daß diese Verpflichtung vorzeitig ihre Gültigkeit verloren hat. Die pauschale Behauptung, es sei seitens des MfS Druck ausgeübt worden, genügt hierfür nicht. Damit verbleibt es bei der fortwirkenden Verpflichtung der Klägerin zu inoffizieller Mitarbeit bis zum Zeitpunkt der Auflösung des MfS.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. Armbrüster, Gräfl, Bepler, Lenßen, Beus
Fundstellen