Entscheidungsstichwort (Thema)

Beihilfeanspruch. schriftliche Anordnung

 

Normenkette

BSHG §§ 39, 90; ZPO §§ 295, 377 Abs. 3, § 411 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LAG Köln (Urteil vom 06.08.1993; Aktenzeichen 13 Sa 848/92)

ArbG Siegburg (Urteil vom 02.07.1992; Aktenzeichen 1 Ca 497/92)

 

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 6. August 1993 – 13 Sa 848/92 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der Kläger macht gegen die Beklagte einen Anspruch aus übergeleitetem Recht geltend.

Die Beklagte beschäftigte bis zum 30. September 1989 Frau E. K. (künftig: Angestellte). Diese ist Mutter des am 30. Mai 1981 geborenen C. K. (künftig: Sohn), bei dem Anfang 1988 in ärztlichen und psychologischen Untersuchungen Sprach- und. Entwicklungsstörungen, Konzentrationsmängel, Angst- und Unsicherheitsfaktoren, Störungen im Sozial- und Kontaktbereich sowie zentralnervöse Störungen festgestellt wurden. Nach Untersuchungen durch die Rheinische Landesklinik Bonn und nach Einholung einer psychologischen Stellungnahme durch das kinder- und jugendtherapeutische Heim „Jagdhaus Dörnberg” erteilte der behandelnde Arzt Dr. W. am 8. April 1988 ein Attest mit folgendem Wortlaut:

„Wegen einer Entwicklungsverzögerung empfehle ich für das Kind C. K., geb.

30.05.81, aus … L., einen Aufenthalt im Jagdhaus Dörnberg.”

Daraufhin wurde der Sohn der Angestellten am 9. Mai 1988 im heilpädagogischem Heim „Jagdhaus Dörnberg” untergebracht. Er wird dort seitdem mit heilpädagogischen Maßnahmen betreut.

Der Kläger holte als überörtlicher Träger der Sozialhilfe zur Feststellung seiner Kostentragungspflicht nach § 39 BSHG eine amtsärztliche Stellungnahme des Gesundheitsamtes Rhein-Sieg-Kreis (Attest Dr. S. vom 20. Juni 1988) ein, welche u.a. lautet:

„… Ärztlicherseits wird die Aufnahme des Jungen in das Jagdhaus Dörnberg als kinder- und jugendtherapeutisches Heim befürwortet, damit der Junge auch außerhalb des Schulunterrichts pädagogisch betreut werden kann.”

Aufgrund dieser Stellungnahme ist der Kläger als Sozialhilfeträger für die Unterbringungskosten des Sohnes im „Jagdhaus Dörnberg” in der Zeit vom 9. Mai 1988 bis zum 30. September 1989 in Höhe von 48.264,30 DM aufgekommen und hat den Beihilfeanspruch der Angestellten gegen die Beklagte nach § 90 BSHG auf sich übergeleitet. Der Kläger hat von der Beklagten den rechnerisch unstreitigen Betrag in Höhe von 17.966,– DM verlangt. Er hat diesen Anspruch auf § 4 Nr. 9 der Verordnung über die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen (Beihilfenverordnung-BVO) vom 27. März 1975 (GV.NW. Seite 332) gestützt, nach der die Beklagte den bei ihr beschäftigten Arbeitnehmern Beihilfe gewährt.

Darin heißt es:

㤠4

Beihilfefähige Aufwendungen in Krankheitsfällen

Die beihilfefähigen Aufwendungen umfassen die Kosten für:

9. Eine vom Arzt schriftlich angeordnete Heilbehandlung und die dabei verbrauchten Stoffe. Zur Heilbehandlung gehören auch Bäder – ausgenommen Saunabäder und Schwimmen in Mineral- oder Thermalbädern außerhalb einer von der Festsetzungsstelle anerkannten Sanatoriumsbehandlung oder Heilkur-, Massagen, Krankengymnastik, Bestrahlungen und heilpädagogische Behandlungen. Bei heilpädagogischen Behandlungen sowie Behandlungen von spastisch gelähmten Kindern in dafür vorgesehenen Heimen sind auch notwendige Aufwendungen für Verpflegung bis zu acht Deutsche Mark, für Unterkunft und Verpflegung insgesamt bis zu vierzehn Deutsche Mark täglich beihilfefähig, es sei denn, daß § 5 anzuwenden ist. …”

In einer schriftlichen Stellungnahme, die der behandelnde Arzt Dr. W. am 23. November 1992 erstellte, heißt es:

„Bei dem Kind C. K., geb. 30.5.80, wurde vom 9.5.1988 – 30.8.1989 wegen einer Entwicklungsverzögerung eine heilpädagogische Behandlung im „Jagdhaus Dörnberg” angeordnet.”

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Beihilfeanspruch gegen die Beklagte folge daraus, daß die heilpädagogische Behandlung des Sohnes der Angestellten im „Jagdhaus Dörnberg” durch den behandelnden Arzt Dr. W. i.S. § 4 Nr. 9 BVO angeordnet worden sei.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen an ihn 17.966,– DM nebst 7,13 % Zinsen ab dem 28. März 1992 zu zahlen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, es fehle an einer schriftlichen ärztlichen Anordnung i. S. § 4 Nr. 9 BVO.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Der Kläger bittet um Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg. Die Klage ist begründet.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte folge aus § 90 BSHG, weil die Aufwendungen für den Sohn der damals bei der Beklagten beschäftigten Angestellten beihilfefähig seien (§ 2 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c BVO). Bei dem Sohn liege eine Krankheit i.S. von § 3 Abs. 1 und § 4 Nr. 9 BVO vor, die nur mit heilpädagogischen, nicht allein mit pädagogischen Maßnahmen zu behandeln sei. Die von § 4 Nr. 9 Satz 1 BVO geforderte schriftliche Anordnung eines Arztes sei in dem Attest des Arztes Dr. W. vom 8. April 1988 enthalten. Eine „Anordnung” setze nicht voraus, daß dieser Begriff verwendet werde. Darüber hinaus habe die schriftliche Bekundung des Arztes als Zeuge ergeben, daß dieser eine Anordnung i.S. des Beihilferechts habe treffen wollen. Die heilpädagogischen Maßnahmen seien in dem Attest vom 8. April 1988 auch hinreichend bestimmt angeordnet worden. Die Rolle des anordnenden Arztes beschränke sich hierbei auf die eines Initiators einer Heilbehandlung. Da das „Jagdhaus Dörnberg” ein heilpädagogisches Heim sei, sei sichergestellt gewesen, daß heilpädagogische Maßnahmen durchgeführt würden, ohne daß dies einer besonderen Feststellung im Attest bedurft hätte.

II. Diese Erwägungen des Landesarbeitsgerichts sind revisionsrechtlich nicht zu beanstanden,

1. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, daß der Kläger, der als Sozialhilfeträger für die Unterbringungskosten des Kindes im „Jagdhaus Dörnberg” aufgekommen ist, den Beihilfeanspruch der Mutter auf sich übergeleitet hat (§ 90 BSHG). Nach § 4 Nr. 9 BVO sind Aufwendungen für eine vom. Arzt schriftlich angeordnete Heilbehandlung beihilfefähig. Dazu gehören auch heilpädagogische Behandlungen (§ 4 Nr. 9 Satz 2 BVO).

Das Landesarbeitsgericht hat auf Grund des Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. L. und der schriftlichen Bekundungen des Zeugen Dr. W. angenommen, daß bei dem Sohn der Angestellten Erkrankungen vorlagen, die heilpädagogische Behandlungen erforderten und daß diese im Sinne der BVO auch angeordnet worden waren. Die hiergegen erhobenen Revisionsrügen der Beklagten greifen nicht durch.

2. Die Revision beanstandet, das Landesarbeitsgericht habe sein ihm nach § 377 Abs. 3 und § 411 Abs. 3 ZPO zustehendes Ermessen überschritten, indem es die Beweispersonen Prof. Dr. L. und Dr. W. zu der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht nicht geladen habe. Diese Prozeßrüge ist nach § 295 ZPO unzulässig.

Im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht am 6. August 1993 lagen Sachverständigengutachten und schriftliche Beantwortung der Beweisfrage vor. Von der Anordnung des persönlichen Erscheinens des Sachverständigen Prof. Dr. L. und der Ladung des Zeugen Dr. W. hatte das Gericht abgesehen. Dazu war es nach § 377 Abs. 3 Satz 3 und § 411 Abs. 3 ZPO grundsätzlich befugt. Im Termin verhandelte die Beklagte streitig zum Ergebnis der Beweisaufnahme und wiederholte ihren zuletzt gestellten Antrag. Obgleich ihr bekannt war, daß der Sachverständige und der Zeuge nicht geladen worden waren, rügte sie dies nicht. Damit war ein etwaiger Mangel des Verfahrens geheilt. Die Verletzung einer das Verfahren betreffenden Vorschrift kann nicht mehr gerügt werden, wenn eine Partei bei der nächsten mündlichen Verhandlung den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein mußte (§ 295 ZPO).

3. Zu Unrecht beanstandet die Revision, der behandelnde Arzt Dr. W. habe eine eindeutige Feststellung bezüglich der Erkrankung des Sohnes nicht getroffen. Voraussetzung für den Beihilfeanspruch der Mutter ist lediglich, daß eine Krankheit im Sinne § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVO bei dem Sohn vorlag. Dies hat das Landesarbeitsgericht aufgrund des Sachverständigengutachtens bejaht. Die Beklagte hat dies nicht mit Revisionsrügen angegriffen.

4. Auch die Rüge der Revision, das Landesarbeitsgericht habe zu Unrecht angenommen, daß der Zeuge Dr. W. eine Anordnung im Sinne 4 Nr. 9 BVO getroffen habe, ist unbegründet. Die Revision macht geltend, das Landesarbeitsgericht habe das Attest falsch gewürdigt. Insoweit vermag der Senat jedoch einen Rechtsfehler des Berufungsurteils nicht zu erkennen.

Das Landesarbeitsgericht hat seine Auslegung auf die Aussage des Zeugen Dr. W. und das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. L. gestützt. Die Revision könnte mit ihrer die Würdigung der Beweisaufnahme betreffenden Rüge nur Erfolg haben, wenn ein Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungsgrundsätze vorläge (BAG Urteil vom 3. April 1986 – 2 AZR 324/85 – AP Nr. 18 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung). Dafür fehlt es an Anhaltspunkten.

Die Würdigung des Attests durch das Landesarbeitsgericht verletzt nicht diese Grundsätze. Sie ist in sich widerspruchsfrei. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, daß es bei einer „Anordnung” im Sinne § 4 Nr. 9 BVO nicht der wörtlichen Verwendung dieses Begriffs bedarf (BAG Urteil vom 21. Dezember 1973 – 4 AZR 59/73 – AP Nr. 1 zu Nr. 4 Beihilfevorschriften; Senatsurteil vom 23. Oktober 1991 – 6 AZR 471/89BAGE 68, 384 = AP Nr. 5 zu § 40 BAT). Bei der Wertung einer ärztlichen Attestierung muß den Ausschlag geben, was vom attestierenden Arzt erkennbar gewollt ist. Es bestehen keine revisionsrechtlichen Bedenken dagegen, daß das Landesarbeitsgericht die von dem behandelnden Arzt Dr. W. in seinem ersten Attest vom 8. April 1988 gebrauchte Formulierung „… empfehle ich …” als hinreichenden Ausdruck dafür gewertet hat, daß der behandelnde Arzt die Durchführung von heilpädagogischen Maßnahmen bei dem Sohn im „Jadhaus Dörnberg” für erforderlich hielt und in die Wege Leiten wollte. Die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung des Attests ist jedenfalls möglich und damit ohne Rechts fehler.

5. Auch mit der Rüge, daß die Anordnung von Dr. W. sich nicht auf eine heilpädagogische Maßnahme bezogen habe, sondern nur auf einen Aufenthalt im „Jagdhaus Dörnberg”, kann die Beklagte keinen Erfolg haben. Auch insoweit ist die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Würdigung des Inhalts des Attests rechtsfehlerfrei. Das Landesarbeitsgericht hat – von der Revision nicht angegriffen und damit für das Revisionsgericht bindend – festgestellt, daß im „Jagdhaus Dörnberg” heilpädagogische Maßnahmen durchgeführt werden. Damit war nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts die Empfehlung im Attest des Arztes Dr. W. so gemeint, daß für den Sohn der Angestellten dort heilpädagogische Maßnahmen durchgeführt werden sollten, ohne daß dies einer speziellen Feststellung im Attest bedurft hätte. Auch diese Wertung des Landesarbeitsgerichts ist revisionsrechtlich bedenkenfrei.

III. Die Beklagte hat die Kosten ihrer erfolglosen Revision nach § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.

 

Unterschriften

Dr. Peifer, Prof. Dr. Jobs, Dr. Armbrüster, Bengs, Elias

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1073558

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