Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschäftigungszeit eines Beamten in Privatwirtschaft
Leitsatz (amtlich)
Ist ein Beamter von der Deutschen Bundesbahn oder Deutschen Bundespost an eine Gesellschaft des Handelsrechts abgeordnet worden, so sind nach dem Manteltarifvertrag für die Autokraft die Abordnungszeiten als Beschäftigungs- und Dienstzeiten anzusehen. Ein Angestellter kann mithin nach 15jähriger Beschäftigung unkündbar werden.
Normenkette
TVG § 1 Tarifverträge: Manteltarifvertrag für die Angestellten der Autokraft GmbH vom 13. Dezember 1989 § 4, § 1 Tarifverträge: Manteltarifvertrag für die Angestellten der Autokraft GmbH vom 13. Dezember 1989 § 23
Verfahrensgang
LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 20.05.1992; Aktenzeichen 5 Sa 61/92) |
ArbG Kiel (Urteil vom 15.01.1992; Aktenzeichen 4b Ca 2300/91) |
Tenor
- Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 20. Mai 1992 – 5 Sa 61/92 – wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger am 31. Oktober 1991 bei der Beklagten länger als 15 Jahre i. S. von § 23 Abs. 1 des Manteltarifvertrages für die Angestellten der Beklagten vom 13. Dezember 1989 beschäftigt war.
Die Beklagte ist eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Bundespost in der Rechtsform einer Handelsgesellschaft. Sie hat in Schleswig-Holstein im Jahr 1951 den gesamten Bahnbusverkehr und ab 1. Januar 1976 auch den Postbusverkehr übernommen und eigenverantwortlich fortgeführt. Aus diesem Anlaß sind sowohl von der Bundesbahn als auch von der Bundespost Bedienstete in den Dienst bei der Beklagten übergewechselt, nachdem sie zuvor bei ihr nur im Abordnungsverhältnis tätig waren.
Der 1939 geborene Kläger war seinerzeit Postbeamter im Bereich der Oberpostdirektion K…. Er wurde zum 1. Januar 1976 in den Betrieb der Beklagten abgeordnet, die zu diesem Zeitpunkt einen Betriebsversuch zur Übernahme des Postbusdienstes startete. Während der Abordnung erhielt der Kläger neben seinen Bezügen als Postbediensteter von der Beklagten eine Zulage in Höhe von 200,-- DM brutto. Die Beklagte erstattete darüber hinaus der Bundespost die Beträge, die sie für einen vergleichbaren Angestellten hätte zahlen müssen, wobei sie die Zulage wieder in Abzug brachte. Nach Beendigung des Betriebsversuches wurde der Kläger auf seinen Antrag ohne Zahlung von Bezügen ab 1. Dezember 1978 von der Bundespost beurlaubt. Zum gleichen Zeitpunkt schlossen die Parteien einen schriftlichen Arbeitsvertrag, nach dem auf das Arbeitsverhältnis der Manteltarifvertrag für die Angestellten der Beklagten, den sie mit der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) abgeschlossen hat, anwendbar ist.
Der Kläger war zunächst als Fahrplansachbearbeiter tätig und zuletzt als Sachbearbeiter für Versicherungswesen, Hausverwaltung u. a. mit einem Gehalt von 4.547,-- DM brutto monatlich. Mit Schreiben vom 31. Oktober 1991, das dem Kläger am 18. November 1991 zugegangen ist, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 1991 mit der Begründung auf, der jetzige Arbeitsplatz des Klägers müsse aufgrund der Untersuchungsergebnisse eines Unternehmensberaters wegfallen.
Unter dem 2. Januar 1986 hatte die Geschäftsleitung der Beklagten dem Kläger zum zehnjährigen Dienstjubiläum am 1. Januar 1986 gratuliert.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei unwirksam, da ihm nach 15jähriger Beschäftigung nur aus einem wichtigen, in seiner Person liegenden Grund gekündigt werden könne. Im übrigen sei die Kündigung nicht fristgerecht erfolgt. Denn nach § 22 Ziff. 3 Abs. 2 MTV seien bei älteren Angestellten die gesetzlichen Kündigungsfristen des AngKSchG anzuwenden. Zudem sei die Kündigung sozial ungerechtfertigt.
Der Kläger hat beantragt
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die Kündigung vom 31. Oktober 1991 – zugestellt am 18. November 1991 – nicht beendet worden ist,
- die Beklagte zu verurteilen, den Kläger über den 31. Dezember 1991 hinaus weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, die Zeit der Abordnung des Klägers von der Bundespost vom 1. Januar 1976 bis 30. November 1978 könne nicht als Beschäftigungszeit i. S. des § 23 Abs. 1 MTV gewertet werden. Der Kläger sei deshalb nicht mehr als 15 Jahre bei ihr beschäftigt gewesen. Außerdem seien die Kündigungsfristen des AngKSchG nicht anwendbar, da der Kläger Beamter der Deutschen Bundespost sei und nicht Angestellter im Sinne dieses Gesetzes.
Das Arbeitsgericht hat der Klage entsprochen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Kündigung vom 31. Oktober 1991 ist unwirksam, da der Kläger länger als 15 Jahre bei der Beklagten beschäftigt war.
I. Die vom Kläger erhobene Feststellungsklage ist zulässig, insbesondere fehlt ihr nicht das nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse. Dies folgt schon aus dem Umstand, daß der Kläger bei Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten ein um mindestens 651,25 DM höheres Monats-Bruttoentgelt erhielte als bei einer Rückkehr als Beamter zur Deutschen Bundespost. Hieran ändert auch nichts die Möglichkeit einer “Beförderung in die Gruppe A 9”, wie die Beklagte meint.
II. Die Feststellungsklage ist auch begründet.
1. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der von der Beklagten mit der ÖTV abgeschlossene Manteltarifvertrag für die Angestellten der A… vom 13. Dezember 1989 kraft Vereinbarung im Arbeitsvertrag Anwendung. Damit kommt es für die Entscheidung auf die folgenden Tarifbestimmungen an:
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Beschäftigungszeit
§ 11
Urlaub
- Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Der volle Urlaubsanspruch wird erstmals nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses erworben.
- …
§ 20
Jubiläumszuwendung
Die Jubiläumszuwendung nach einer Beschäftigungszeit von 10 Jahren beträgt DM 200,--.
Die Jubiläumszuwendungen nach Beschäftigungszeiten von 25 und 40 Jahren werden betrieblich geregelt.
§ 22
Ordentliche Kündigung
§ 23
Ausschluß der Kündigung
Nach einer Beschäftigungszeit bei der A… von mehr als 15 Jahren kann einem über 45 Jahre alten Angestellten das Arbeitsverhältnis nur aus einem wichtigen in der Person des Angestellten liegenden Grund gekündigt werden.
Fahrdienstuntauglichkeit ist kein wichtiger Grund, sofern er im übrigen arbeitsfähig und bereit ist, eine andere Tätigkeit im Betrieb zu verrichten.
Der Kündigungsschutz entfällt, sobald der Angestellte das gesetzliche Altersruhegeld oder die Erwerbsunfähigkeitsrente in Anspruch nehmen kann.”
2. Danach kann gem. § 23 Abs. 1 MTV einem – wie vorliegend – über 45 Jahre alten Angestellten nach einer Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren nur aus einem wichtigen in der Person des Angestellten liegenden Grund gekündigt werden.
Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, schon nach dem reinen Tarifwortlaut sei die Beschäftigungszeit, die der Kläger aufgrund der Abordnung durch die Deutsche Bundespost bei der Beklagten erbracht habe, auch als “Beschäftigungszeit” im Sinne dieser Tarifbestimmung anzunehmen. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Dabei ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat (BAGE 42, 86, 89 = AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 60, 219, 223 f. = AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation, zu II 1a der Gründe; BGHZ 105, 222, 223). Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages, gegebenenfalls auch eine praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAGE 42, 86, 89 = AP, aaO; BAGE 42, 244, 254 = AP Nr. 2 zu § 21 TVAL II; BAGE 46, 308, 316 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung).
b) Die Tarifvertragsparteien haben in § 4 Ziff. 1 MTV festgelegt, “die Beschäftigungszeit rechnet vom Tage der Arbeitsaufnahme an”. Damit haben sie in keiner Hinsicht zum Ausdruck gebracht, daß es für die Berechnung der Beschäftigungszeit auf die Rechtsgrundlage der Arbeitsaufnahme ankommt. Sie haben vielmehr auf die tatsächliche Arbeitsaufnahme abgestellt. Dies wird unterstrichen durch die Überlegung, daß es sich bei den Tarifvertragsparteien um solche des öffentlichen Dienstes handelt. Diesen waren daher sowohl die Regelungen des BAT wie die Tatsache bekannt, daß bei der Beklagten eine Reihe von Angestellten tätig ist, die zunächst nur im Abordnungsverhältnis tätig waren. Der BAT bestimmt aber in § 19 als Beschäftigungszeit “die bei dem selben Arbeitgeber … in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegte Zeit, auch wenn sie unterbrochen ist”. Hinzu kommt, daß die Tarifvertragsparteien in § 11 Ziff. 1, Ziff. 3, § 12 Ziff. 2 Abs. 1, § 15 Ziff. 2a, § 16 Ziff. 4, § 19 Ziff. 1 und 3 und § 20 MTV zwischen Beschäftigungszeit bzw. Beschäftigung und Arbeitsverhältnis unterscheiden. Schließlich kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß die Beklagte unstreitig der Deutschen Bundespost während der Zeit der Abordnung das dem Kläger gezahlte Gehalt zurückerstattet hat. Darüber hinaus hat die Beklagte die Beschäftigungszeit des Klägers zumindest in der Vergangenheit ebenfalls ab Beginn der tatsächlichen Arbeitsaufnahme am 1. Januar 1976 berechnet, was sich aus dem Schreiben vom 2. Januar 1986 ergibt.
c) Schließlich ergibt sich auch aus dem Gesamtzusammenhang des MTV die hier vertretene Auslegung. Mit der Bestimmung des § 23 Abs. 1 MTV sollte ersichtlich, ähnlich wie in § 53 Abs. 3 BAT, langjähriger Betriebstreue des Angestellten Rechnung getragen werden, wie sich aus den Regelungen der Abs. 2 und 3 ergibt. Diese Betriebstreue hat aber auch ein Angestellter erbracht, der nur auf der Grundlage einer Abordnung bei der Beklagten tatsächlich tätig war.
d) Gegen die Berechnung nach der tatsächlichen Arbeitsleistung ohne Berücksichtigung von deren Rechtsgrundlage spricht nicht die Regelung in § 4 Abs. 3 MTV, wonach Zeiten einer beruflichen Tätigkeit u.a. im öffentlichen Dienst ganz oder teilweise angerechnet werden können, wenn diese Tätigkeit Voraussetzung für die Einstellung war. Es ist zwar richtig, daß während der Zeit der Abordnung des Klägers zu der Beklagten kein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien bestanden hat. Insbesondere ist dieses nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts auch nicht durch die Eingliederung des Klägers in die Arbeits- und Betriebsorganisation der Beklagten konkludent zustandegekommen. Nach ihrem Wortlaut behält die Anrechnungsmöglichkeit aber durchaus einen Sinn, auch wenn Abordnungszeiten stets zu berücksichtigen sind.
3. Das Landesarbeitsgericht hat auch zutreffend erkannt, daß ein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch eine Fiktion gemäß Art. 1 § 10 Abs. 1, § 13 AÜG zustandegekommen ist. Selbst wenn man eine Vergleichbarkeit der vorliegenden Konstruktion der “Beamtenüberlassung” mit der Arbeitnehmerüberlassung annähme, finden die Normen des AÜG weder ausdrücklich noch analog Anwendung, da der Kläger als Beamter nicht unter den Anwendungsbereich des AÜG fällt (vgl. Becker/Wulfgramm, AÜG, 3. Aufl., Einl. Rz 35; Sandmann/Marschall, AÜG, Stand November 1991, Art. 1 § 1 Rz 9) bzw. mangels Vergleichbarkeit von Beamten und Arbeitnehmern das AÜG nicht entsprechend angewendet werden kann. Doch erfaßt die Regelung in § 4 Abs. 3 MTV nach Wortlaut und Sinnzusammenhang allein die direkte Übernahme aus dem öffentlichen Dienst in ein Arbeitsverhältnis bei der Beklagten, was sich bereits aus der Verwendung des Begriffs der “Einstellung” ergibt. Vorliegend kommt es auf diese Vorschrift deshalb nur dann an, wenn Streit über die Anrechnung von Dienstzeiten des Klägers bei der Deutschen Bundespost vor Arbeitsaufnahme bei der Beklagten bestand.
4. Da die Kündigung aus diesen Gründen rechtsunwirksam ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob sie auch fristgerecht erfolgte, ob sie sozial gerechtfertigt war und ob der Betriebsrat ordnungsgemäß (§ 102 BetrVG) angehört worden ist.
5. Aus den vorstehenden Gründen ist damit auch der Antrag auf Weiterbeschäftigung begründet.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Schaub, Dr. Wißmann, Schneider, Hecker, Dr. Reinfeld
Fundstellen