Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS - Lehrer
Orientierungssatz
Außerordentliche Kündigung eines Diplomlehrers für Biologie und Chemie nach dem Einigungsvertrag wegen Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit. Falschbeantwortung (Klage abgewiesen).
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 30. September 1997 - 4 Sa
930/95 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, die der Beklagte u.a. auf Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag (fortan: Abs. 5 Ziff. 2 EV) stützt.
Der am 13. Januar 1959 geborene Kläger ist Diplomlehrer für Biologie und Chemie. Er nahm seine Tätigkeit am 1. August 1985 an der Oberschule in M auf. In dieser Tätigkeit wurde er vom Beklagten übernommen. In dem Personalbogen vom 15. April 1991 unterzeichnete der Kläger folgende Erklärung:
"Ich versichere hiermit nach bestem Wissen und Gewissen, daß ich
kein Mitarbeiter oder Informant des ehemaligen Ministeriums für
Staatssicherheit bzw. der Nachfolgeeinrichtung Amt für Nationale
Sicherheit gewesen bin, keinerlei Gelder von diesen Institutionen
erhielt und bewußt auch keine Informationen denunzierenden
Charakters zur Verwendung durch das Ministerium für
Staatssicherheit bzw. Amt für Nationale Sicherheit gegeben habe."
In einem Personal- bzw. Bewerbungsbogen vom 15. April 1991 beantwortete der Kläger die Frage "Haben Sie jemals offiziell oder informell, hauptamtlich oder in anderer Art und Weise mit dem ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit zusammengearbeitet? Wenn ja: In welcher Weise? Wann? Wo?" mit "Nein".
Am 8. März 1995 ging beim Beklagten der den Kläger betreffende Einzelbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit (BStU) vom 27. Februar 1995 ein. Danach wurde der Kläger beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit (IMS) mit dem Decknamen "Kretschmann" geführt. Nach der Kontaktphase ab 9. Januar 1987 unterzeichnete der Kläger am 18. Juni 1987 eine handschriftliche Verpflichtungserklärung. Zu dieser Zeit war der Kläger ehrenamtlicher Leiter der Arbeitsgruppe Stadtökologie/Umweltschutz der Gesellschaft Natur und Umwelt des Kulturbundes der DDR in der Stadt M . Mit der Werbung bezweckte das MfS die Aufklärung von Mitgliedern dieser Arbeitsgemeinschaft, die nach Auffassung des MfS der "kirchlichen Ökologieszene" angehörten. Darüber hinaus sollten Versuche dieser "bekannten negativen kirchlichen Kräfte" verhindert werden, Funktionen der Arbeitsgemeinschaft zu übernehmen oder diese zu mißbrauchen.
Die über den Kläger geführten Akten des MfS enthalten 24 Treffberichte der Führungsoffiziere, 14 Berichte der Führungsoffiziere nach Informationen des Klägers sowie 13 vom Kläger mit Decknamen unterschriebene handschriftliche Berichte. Des weiteren enthalten die Akten eine Kopie eines von einem Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Stadtökologie/Umweltschutz entworfenen Schreibens, vier Durchschriften von Schreiben der Arbeitsgemeinschaft an den Rat der Stadt M , ein Veranstaltungsprogramm und ein Informationsblatt der Arbeitsgemeinschaft.
Nach persönlicher Anhörung des Klägers und des Lehrerbezirkspersonalrats kündigte der Beklagte mit Schreiben vom 28. März 1995, das dem Kläger am selben Tage zuging, das Arbeitsverhältnis zum 28. März 1995 aus wichtigem Grunde außerordentlich fristlos.
Mit der am 13. April 1995 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht.
Er hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien
durch die außerordentliche Kündigung vom 28. März 1995 nicht
aufgelöst wurde.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat die Ansicht vertreten, die Weiterbeschäftigung des Klägers sei schon aufgrund seiner Falschauskünfte unzumutbar. Mit den wahrheitswidrigen Erklärungen habe der Kläger schuldhaft vertragliche Nebenpflichten verletzt. Hierdurch sei das Vertrauensverhältnis so nachhaltig gestört, daß eine Weiterbeschäftigung dem Beklagten nicht zuzumuten sei. Im übrigen sei die Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV gerechtfertigt. Die Art, der Umfang und die Dauer der Tätigkeit des Klägers für das MfS führten zur Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat nach Einholung einer Vollauskunft des BStU die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Feststellungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
A. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt, die Kündigung vom 28. März 1995 habe das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos aufgelöst. Die Voraussetzungen des besonderen Kündigungstatbestandes nach Abs. 5 Ziff. 2 EV lägen vor. Der Kläger sei bewußt und gewollt für das MfS tätig geworden. Er habe mündlich und schriftlich über Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Stadtökologie/Umweltschutz sowie die Arbeit dieser Arbeitsgemeinschaft berichtet. Hierzu hätten 24 Treffen zwischen dem Kläger und dem jeweiligen Führungsoffizier überwiegend in monatlichen Abständen stattgefunden. Als Lehrer seien dem Kläger junge Menschen anvertraut, denen er nicht nur Fachwissen zu vermitteln, sondern auch Vorbild zu sein habe. Deshalb sei es dem Beklagten unzumutbar, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fortzusetzen. Die beanstandungsfreie Tätigkeit des Klägers entkräfte die durch die Mitarbeit des Klägers beim MfS hervorgerufene Belastung nicht. Der Personalrat sei ordnungsgemäß beteiligt worden. Der Beklagte habe sich bei Ausspruch der Kündigung wirksam vertreten lassen.
B. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Die Kündigung vom 28. März 1995 hat das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit Ablauf des 28. März 1995 aufgelöst.
I. Auf das Arbeitsverhältnis des Klägers findet der Sonderkündigungstatbestand gemäß Abs. 5 Ziff. 2 EV Anwendung. Der Kläger gehörte im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts dem öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR an.
II. Der Kläger war im Sinne von Abs. 5 Ziff. 2 EV für das MfS tätig. Aufgrund seiner am 18. Juni 1987 abgegebenen Verpflichtungserklärung lieferte der Kläger dem MfS schriftliche und mündliche Berichte.
III. Die außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Ob dies der Fall ist, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentliches Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. Senatsurteil vom 11. Juni 1992 - 8 AZR 474/91 - BAGE 70, 309, 320 = AP Nr. 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu B II 1 c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit sowie aus Zeit und Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben. Maßgebend ist, ob das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bei Bekanntwerden der Tätigkeit des MfS in einer Weise beeinträchtigt würde, die das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar macht.
Ebenfalls bei der Prüfung der Zumutbarkeit zu beachten ist die Art der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer in dem in Frage stehenden Arbeitsverhältnis ausübt. Ob das Vertrauen in die Verwaltung durch die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers erschüttert wird, hängt nicht nur von der Verstrickung des Arbeitnehmers mit dem MfS ab, sondern auch davon, welche Wirkungsmöglichkeiten und Befugnisse der Arbeitnehmer in seinem jetzigen Arbeitsverhältnis hat (BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1934/93 - AP Nr. 67 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX). Die Beschäftigung eines belasteten Arbeitnehmers mit rein vollziehender Sachbearbeitertätigkeit oder handwerklicher Tätigkeit wird das Vertrauen in die Verwaltung weniger beeinträchtigen als die Ausübung von Entscheidungs- und Schlüsselfunktionen durch einen ebenso belasteten Arbeitnehmer.
Der Frage, ob die frühere Tätigkeit ein Festhalten am jetzigen Arbeitsverhältnis noch zu rechtfertigen vermag, wohnt auch ein zeitliches Element inne. Der Arbeitgeber kann die Kündigung nicht zeitlich unbegrenzt aussprechen. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 626 Abs. 2 BGB kann der wichtige Grund nach Abs. 5 Ziff. 2 EV durch bloßen Zeitablauf entfallen, ohne daß die weitergehenden Voraussetzungen der allgemeinen Verwirkung, wie das Vorliegen eines Umstandsmoments, erfüllt sein müßten (vgl. näher Senatsurteil vom 28. April 1994 - 8 AZR 157/93 - BAGE 76, 334, 340 = AP Nr. 13 zu Art. 20 Einigungsvertrag). Der Kündigungsberechtigte darf einen Kündigungsgrund unabhängig von § 626 Abs. 2 BGB nicht beliebig lange zurückhalten, um davon bei ihm gut dünkender Gelegenheit Gebrauch zu machen. Eine feste Zeitgrenze, ab wann die Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis nicht mehr gegeben ist, besteht nicht. Vielmehr bedarf es einer Abwägung des Zeitablaufs mit dem Gewicht der Kündigungsgründe. Maßgebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalles, denn das Erscheinungsbild der Verwaltung wird mitgeprägt von der Zeitdauer, die der frühere MfS-Mitarbeiter nach der Wiedervereinigung unbeanstandet tätig war.
IV. Die vom Landesarbeitsgericht durchgeführte Einzelfallprüfung gelangt zu dem richtigen Ergebnis, daß die MfS-Tätigkeit des Klägers aufgrund ihrer Dauer, der Häufigkeit und vor allem ihrer Intensität für sich genommen geeignet ist, für den Beklagten die Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis zu begründen. Die Revisionsrügen des Klägers rechtfertigen keine Aufhebung des Berufungsurteils.
1. Die erhobenen Verfahrensrügen sind unzulässig. Die Rüge, das Landesarbeitsgericht habe angetretene Beweise nicht berücksichtigt, muß nach Beweisthema und Beweismittel angeben, zu welchem Punkt das Landesarbeitsgericht eine Beweisaufnahme zu Unrecht unterlassen habe, in welchen Schriftsätzen die Beweismittel angegeben worden seien, welche Zeugen hätten vernommen werden müssen und was deren Aussage ergeben hätte (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. Urteil vom 7. Oktober 1987 - 5 AZR 116/86 - AP Nr. 15 zu § 611 BGB Persönlichkeitsrecht). Der Kläger hat diese nach § 554 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b ZPO unverzichtbaren Angaben zu Ort und Inhalt der seiner Ansicht nach vom Landesarbeitsgericht übergangenen Beweisantritte unterlassen.
2. Die vom Kläger mit der Revision vorgebrachten materiell-rechtlichen Rügen gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Einzelfallprüfung greifen nicht durch. Das Landesarbeitsgericht hat den festgestellten Sachverhalt umfassend gewürdigt. Revisionsrechtlich erhebliche Fehler sind nicht feststellbar. Vielmehr hat das Landesarbeitsgericht aufgrund der einzelnen, inhaltlich unstreitigen schriftlichen Berichte des Klägers Umstände ermittelt, die die Annahme des Berufungsgerichts begründen, der Kläger habe sich durch seine MfS-Tätigkeit in erheblichem Umfange in das Unrechtsregime der ehemaligen DDR verstrickt. Aufgrund der vom BStU mitgeteilten Berichte des Klägers aus seiner Tätigkeit in der Arbeitsgemeinschaft Stadtökologie/Umweltschutz hat das Landesarbeitsgericht mit Recht gefolgert, der Kläger habe persönliche Berichte gefertigt, die geeignet waren, vom MfS mit anderen Informationen vernetzt und gegen einzelne Bürger verwendet zu werden. Insbesondere seine Mitteilungen zu Ausreiseabsichten seiner Ehefrau, kirchlichen Bindungen von Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft und deren politischen Einstellungen sowie beabsichtigten Maßnahmen gegenüber Organen der Staatsgewalt überschritten das Niveau unverfänglicher Berichte deutlich.
Die Annahme des Klägers, seine Berichte seien nichtssagend gewesen und hätten niemandem geschadet, widerspricht zwar der Würdigung des Landesarbeitsgerichts, belegt aber keinen Rechtsfehler des angefochtenen Urteils. Für die Annahme der Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ist es nicht erforderlich, daß dem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes der Nachweis einer konkreten Schädigung eines Mitbürgers des IM gelingt. Die Unzumutbarkeit einer Tätigkeit für das MfS ist nach dem Tatbestand des Abs. 5 Ziff. 2 EV nicht an den Erfolg, sondern an die Tätigkeit und damit den Umfang und den Inhalt der Berichte geknüpft. Insofern haben die Vorinstanzen mit Recht die erhebliche Belastung des Klägers durch seine Berichtstätigkeit festgestellt.
Der in einzelnen Punkten untypische Lebensweg des Klägers (Abbruch der NVA-Offiziersausbildung, Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Stadtökologie) vermag die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht auszuräumen, zumal gerade die ehrenamtliche Tätigkeit des Klägers im Umweltschutz sein Berichtsfeld bot.
Die Würdigung des Berufungsgerichts, der Kläger sei nicht vorzeitig aus dem Dienst als IM ausgeschieden, sondern seine IM-Tätigkeit habe aufgrund der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit ihr Ende gefunden, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Landesarbeitsgericht hat diese Würdigung aufgrund der eingeholten Vollauskunft des BStU mit dem Inhalt beider über den Kläger geführten Akten begründet.
V. Das Kündigungsrecht des Beklagten war nicht verwirkt. Die Bildung eines schützenswerten Vertrauens des Klägers ist nicht ersichtlich, zumal er den Beklagten durch unwahre Angaben über seine frühere MfS-Tätigkeit getäuscht hatte.
Ebenso hat das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen, daß dem wirksamen Ausspruch der Kündigung nicht der Zeitablauf zwischen Kenntniserlangung und Ausspruch der Kündigung entgegensteht. Die für das Kündigungsverfahren zuständige Behörde hat das Kündigungsverfahren geordnet durchgeführt. Ein Ausspruch der Kündigung zu einem nach Gutdünken bestimmten Zeitpunkt liegt hierin nicht.
VI. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zur Beteiligung des Personalrats und zur wirksamen Vertretung des Beklagten bei Ausspruch der Kündigung sind revisionsrechtlich nicht angegriffen worden und frei von Rechtsfehlern.
C. Gemäß § 97 Abs. 1 ZPO hat der Kläger die Kosten der erfolglosen Revision zu tragen.
Ascheid Dr. Wittek Müller-Glöge
E. Schmitzberger Dr. Scholz
Fundstellen