Entscheidungsstichwort (Thema)
Urlaubsabgeltung und Erwerbsunfähigkeit
Orientierungssatz
Parallelentscheidung zum Urteil des BAG vom 29.4.1987 - 8 AZR 32/85 -.
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Entscheidung vom 08.10.1984; Aktenzeichen 11 Sa 442/84) |
ArbG Gießen (Entscheidung vom 21.02.1984; Aktenzeichen 1 Ca 604/83) |
Tatbestand
Der Kläger ist schwerbehindert und war bei der Beklagten, einem Unternehmen der Metallindustrie, seit 1961 als Arbeiter mit einem Stundenlohn von zuletzt 15,-- DM (brutto) beschäftigt.
Auf das Arbeitsverhältnis war kraft beiderseitiger Tarifbindung der Gemeinsame Manteltarifvertrag für Arbeiter und Angestellte in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen vom 15. Januar 1982 (MTV) anzuwenden.
§ 15 Nr. 3 Abs. 4 MTV lautet:
"Scheidet ein Arbeitnehmer nach Erreichung der
Altersgrenze oder wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit
aus dem Berufsleben aus, so erhält er
abweichend von Abs. 1 für das Austrittsjahr den
vollen Jahresurlaub, wenn er länger als 5 Monate
im Urlaubsjahr dem Betrieb angehört hat. Maßgeblich
ist der Rentenbescheid."
In § 15 Nr. 8 MTV ist bestimmt:
"Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses
ganz oder teilweise nicht mehr
gewährt werden, so ist er abzugelten. ..."
Nach § 16 MTV hatte der Kläger im Urlaubsjahr 1983 einen Urlaubsanspruch von 30 Tagen.
Seit dem 3. März 1983 war der Kläger ununterbrochen arbeitsunfähig krank. Durch Bescheid der zuständigen Rentenversicherungsanstalt vom August 1983 wurde ihm rückwirkend zum 1. April 1983 Erwerbsunfähigkeitsrente bewilligt. Deswegen lösten die Parteien am 5. September 1983 einvernehmlich das Arbeitsverhältnis auf.
Mit seiner der Beklagten am 25. Oktober 1983 zugestellten Klage hat der Kläger Urlaubsabgeltung und tarifliches Urlaubsgeld für seinen Urlaubsanspruch 1983 von 30 Urlaubstagen zuzüglich sechs Tagen Schwerbehindertenzusatzurlaub begehrt.
Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 6.120,-- DM (brutto) nebst 4 v. H. Zinsen seit 25. Oktober 1983 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Klagantrag weiter. Die Beklagte bittet, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung.
Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist für den Kläger mit dessen Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis ein Urlaubsabgeltungsanspruch und auch ein Anspruch auf Zahlung von zusätzlichem Urlaubsgeld entstanden. Das Landesarbeitsgericht hat keine Feststellungen darüber getroffen, ob diese Ansprüche bis zu ihrem Erlöschen am Ende des Übertragungszeitraums am 31. März 1984 zu erfüllen gewesen wären, so daß der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen werden muß, um dies nachzuholen.
1. Nach § 15 Nr. 3 Abs. 4, § 16 MTV hatte der Kläger im Urlaubsjahr 1983 30 Urlaubstage zuzüglich nach § 44 SchwbG sechs Urlaubstage zu erhalten, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht gewährt waren. Ohne Auswirkungen auf den Bestand des Urlaubsanspruchs ist, daß der Kläger vor seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis seit 3. März 1983 ununterbrochen arbeitsunfähig krank war (vgl. in ständiger Rechtsprechung die Entscheidungen des Sechsten Senats seit 28. Januar 1982, BAGE 37, 382 = AP Nr. 11 zu § 3 BUrlG Rechtsmißbrauch; zuletzt Urteil vom 7. November 1985 - 6 AZR 169/84 - EzA § 7 BUrlG Nr. 43). Dieser Auffassung ist der erkennende Senat mit Urteil vom 14. Mai 1986 (- 8 AZR 604/84 - AP Nr. 26 zu § 7 BUrlG Abgeltung, zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen) beigetreten.
2.a) Unter Hinweis auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 23. Juni 1983 (BAGE 44, 75 = AP Nr. 14 zu § 7 BUrlG Abgeltung) hat dagegen das Landesarbeitsgericht angenommen, daß dem Kläger der von ihm geltend gemachte Urlaubsabgeltungs- und Urlaubsgeldanspruch nicht zustehe, nachdem er unstreitig nach andauernder Arbeitsunfähigkeit aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sei, ohne die Arbeitsfähigkeit wiedererlangt zu haben.
b) Dieser Auffassung tritt der erkennende Senat nicht bei. Mit dem Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nach Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis allein kann ein Urlaubsabgeltungsanspruch nicht verneint werden. Das Landesarbeitsgericht hat nicht berücksichtigt, daß in der von ihm angezogenen Entscheidung des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts ein Urlaubsabgeltungsanspruch eines Arbeitnehmers zu beurteilen war, dessen Arbeitsverhältnis nach andauernder Arbeitsunfähigkeit geendet und der auch bis zum 31. März des folgenden Jahres seine Arbeitsfähigkeit nicht wiedererlangt hatte. Wie zu entscheiden ist, wenn nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Arbeitnehmer wieder arbeitsfähig wird, hatte das Bundesarbeitsgericht offengelassen. Mit Urteil vom 28. Juni 1984 (BAGE 46, 224 = AP Nr. 18 zu § 7 BUrlG Abgeltung) hat der Sechste Senat klargestellt, daß Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nicht das Entstehen des Urlaubsabgeltungsanspruchs hindert, sondern dessen Erfüllbarkeit ausschließt, solange sie andauert. Die Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers wegen Krankheit hat für den Urlaubsabgeltungsanspruch die gleichen Wirkungen wie für den Urlaubsanspruch vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Dieser Auffassung hat sich der erkennende Senat mit Urteil vom 14. Mai 1986 (- 8 AZR 604/84 - AP Nr. 26 zu § 7 BUrlG Abgeltung) angeschlossen. Danach setzt die Erfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs voraus, daß der Arbeitnehmer bei Fortdauer des Arbeitsverhältnisses eine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung hätte erbringen können. Dies ist nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Arbeitnehmer wegen Erwerbsunfähigkeit ausgeschieden ist (arg. § 183 Abs. 4 RVO, vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II, S. 392 und Bd. III, S. 682 g; ebenso LAG Niedersachsen Urteil vom 30. August 1985 - 3 Sa 28/85 - S. 7 bis 10). Darauf hat der Senat seit seinem Urteil vom 14. Mai 1986 (aaO) inzwischen in ständiger Rechtsprechung mehrfach abgestellt (vgl. zuletzt Urteil vom 26. März 1987 - 8 AZR 605/84 -).
Erwerbsunfähig ist, wer infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von der Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl. § 1247 Abs. 2 RVO). Die Erwerbsunfähigkeit setzt somit nicht voraus, daß der Arbeitnehmer eine bisher vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht mehr ausüben kann. Bei Prüfung der Erwerbsunfähigkeit findet keine Beschränkung auf den bisherigen Beruf oder, wie dies bei der Berufsunfähigkeit nach § 1246 Abs. 2 RVO die Regel ist, auf die Berufsgruppe statt (vgl. Brackmann, aaO, Bd. II, S. 392 und Bd. III, S. 682 g). Es ist somit nicht ausgeschlossen, daß ein Arbeitnehmer erwerbsunfähig, aber zugleich dennoch arbeitsfähig ist.
c) Dieser Rechtsprechung des erkennenden Senats steht Art. 11 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1970 über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung vom Jahr 1970, BGBl. II 1975, 746) nicht entgegen. Auch das Landesarbeitsgericht hat einen Verstoß gegen dieses Abkommen nicht angenommen.
Die Angriffe der Revision rechtfertigen keine andere Beurteilung. Die Auffassung, daß der Urlaubsabgeltungsanspruch nach § 7 Abs. 3 BUrlG in seiner Erfüllbarkeit von der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers nach Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis abhängt und dieser Anspruch ebenso wie der Urlaubsanspruch befristet bis zum Ablauf des Kalenderjahres bzw. des Übertragungszeitraums besteht, widerspricht nicht Art. 11 des Übereinkommens Nr. 132. Hierzu hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts bereits ausführlich Stellung genommen (Urteil vom 7. März 1985, BAGE 48, 186 = AP Nr. 21 zu § 7 BUrlG Abgeltung). Er hat dargelegt, daß unabhängig davon, ob von einer unmittelbaren innerstaatlichen Geltung dieses Abkommens ausgegangen werden muß, die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 7 Abs. 4 BUrlG mit Art. 11 des Übereinkommens Nr. 132 übereinstimmt: Sowohl Art. 11 des Übereinkommens Nr. 132 als auch § 7 Abs. 4 BUrlG sind in ihrem Regelungsumfang darauf beschränkt, die Voraussetzungen für das Entstehen des Urlaubsabgeltungsanspruchs bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu bestimmen. Merkmale für Leistungsstörungen oder andere Leistungshindernisse sind in beiden Vorschriften nicht enthalten, also auch keine Bestimmung über die Erfüllbarkeit dieses Anspruchs. Als Teil des allgemeinen Arbeitsvertragsrechts unterliegt auch der Urlaubsanspruch dem Leistungsstörungsrecht. Die Erfüllbarkeit des Urlaubs- und des Urlaubsabgeltungsanspruchs sind daher entsprechend diesen Regelungszusammenhängen zu beurteilen. Dieser Auffassung folgt auch der erkennende Senat (vgl. ebenso bereits das Senatsurteil vom 10. Februar 1987 - 8 AZR 529/84 - zur Veröffentlichung bestimmt).
3. Entgegen der Auffassung der Revision ändert sich hieran auch nichts durch § 15 Nr. 8 MTV. Diese Tarifbestimmung enthält keine über § 7 Abs. 4 BUrlG hinausgehende Regelung für den Urlaubsabgeltungsanspruch, sondern spricht aus, daß die Abgeltung des Urlaubsanspruchs nur zulässig ist, wenn bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch Urlaubsansprüche bestehen. Die Vorschrift enthält damit keine Merkmale, die über die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 4 BUrlG hinausreichen.
Dies hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts im Urteil vom 23. Juni 1983 (aaO) bereits für den insoweit wortgleichen § 12 MTV-Stahl NRW dargelegt. Daran ist festzuhalten.
4. Ob der Urlaubsabgeltungsanspruch und auch der hiervon abhängige Anspruch auf das tarifliche Urlaubsgeld von der Beklagten zu erfüllen ist, kann gegenwärtig vom erkennenden Senat nicht beurteilt werden, weil vom Landesarbeitsgericht hierzu keine Tatsachenfeststellungen getroffen worden sind.
Damit hängt der Erfolg der Klage davon ab, ob der Kläger nach seinem Ausscheiden bei der Beklagten vor Ablauf des Übertragungszeitraums so rechtzeitig wieder arbeitsfähig geworden ist, daß der Abgeltungsanspruch ganz oder teilweise hätte erfüllt werden können. Wegen des Ablaufs des Übertragungszeitraums am 31. März 1984 stünde ein solcher Anspruch dem Kläger als Schadenersatzanspruch zu (vgl. dazu das Senatsurteil vom 30. Juli 1986 - 8 AZR 475/84 - AP Nr. 22 zu § 13 BUrlG, zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen). Ebenso wie der Urlaubsanspruch ist auch der Urlaubsabgeltungsanspruch zeitlich befristet auf das Urlaubsjahr, für das er entstanden ist, bzw. auf das Ende des Übertragungszeitraums. War der Kläger vor Ablauf des Übertragungszeitraums arbeitsfähig und damit der Urlaubsabgeltungsanspruch ganz oder teilweise zu erfüllen, befand sich die Beklagte mit dieser Leistung jedenfalls im Schuldnerverzug, wenn sie die Urlaubsabgeltung und das tarifliche Urlaubsgeld trotz Geltendmachung durch den Kläger nicht gewährt hat. Die Unmöglichkeit infolge Zeitablaufs hat sie zu vertreten (§§ 286, 280, 287 Satz 2 BGB), wenn trotz Arbeitsfähigkeit des Klägers der Urlaubsabgeltungsanspruch nicht vor Ablauf des Übertragungszeitraums am 31. März 1984 erfüllt werden konnte.
Um dem Landesarbeitsgericht Gelegenheit zu geben, die erforderlichen Feststellungen zu treffen, muß die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden (§ 565 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Michels-Holl Dr. Leinemann Griebeling
Dr. Pühler Hennecke
Fundstellen