Entscheidungsstichwort (Thema)
Kleine dynamische Bezugnahmeklausel. Tarifsukzession. Tarifpluralität. ergänzende Vertragsauslegung. Chefarztvergütung
Orientierungssatz
1. Eine arbeitsvertragliche Vereinbarung, wonach der Chefarzt eines Krankenhauses eine Vergütung “entsprechend der Vergütungsgruppe I des BAT in der jeweils gültigen Fassung” erhält und bei Ersetzung des BAT “an die Stelle der Vergütungsgruppe I BAT die entsprechende Vergütungsgruppe des neuen Tarifvertrags unter Berücksichtigung etwaiger Überleitungsbestimmungen” tritt, trägt nach ihrem Wortlaut sowohl eine Erstreckung auf den TVöD als auch eine solche auf den TV-Ärzte/VKA.
2. Die dem Wortlaut einer derartigen Bezugnahmeklausel nach mögliche, der Tarifpluralität auf tariflicher Ebene folgende Regelungspluralität ist mittels ergänzender Vertragsauslegung regelmäßig dahingehend aufzulösen, dass sich die Vergütung des Chefarztes nach der Entgeltgruppe 15Ü TVöD richten soll. Einen Anspruch auf Vergütung nach Entgeltgruppe IV TV-Ärzte/VKA ab 1. August 2006 begründet eine derartige Bezugnahmeklausel nicht.
Normenkette
BGB §§ 133, 157, 242
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 12. Dezember 2008 – 16 Sa 901/08 E – aufgehoben.
2. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 6. Mai 2008 – 5 Ca 30/08 E – abgeändert.
3. Die Klage wird abgewiesen.
4. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger aufgrund arbeitsvertraglicher Vereinbarung Vergütung nach dem zwischen dem Marburger Bund und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) geschlossenen Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände vom 17. August 2006 (im Folgenden: TV-Ärzte/VKA) beanspruchen kann.
Rz. 2
Die Beklagte ist Mitglied im kommunalen Arbeitgeberverband und betreibt ein Krankenhaus. Der 1943 geborene Kläger war vom 1. August 1990 bis 30. Mai 2008 als leitender Abteilungsarzt (Chefarzt) der Medizinischen Klinik beschäftigt. Im Arbeitsvertrag vom 16./22. Juni 1990 vereinbarten die Parteien ua.:
Ҥ 1
Dienstverhältnis
…
(2) Das Dienstverhältnis ist bürgerlich-rechtlicher Natur. Neben den Regelungen dieses Vertrages finden auf das Dienstverhältnis die §§ 6 – 10, 13, 14, 18 Abs. 3, 36, 37 Abs. 1, 38, 48, 52, 66 und 70 des Bundes-Angestelltentarifvertrages (BAT) vom 23.02.1961, die vom Krankenhausträger erlassenen Satzungen, Dienstanweisungen und die Hausordnung Anwendung; es gilt die jeweils gültige Fassung.
…
§ 8
Vergütung im dienstlichen Aufgabenbereich und Einräumung des Liquidationsrechts
(1) Der Arzt erhält für seine Tätigkeit im dienstlichen Aufgabenbereich folgende Vergütung:
a) Vergütung entsprechend der Vergütungsgruppe I BAT der Anlage 1a zum BAT (VKA), d.h. Grundvergütung nach § 27 BAT, Ortszuschlag nach Maßgabe des § 29 BAT sowie eine Zuwendung und ein Urlaubsgeld entsprechend der tariflichen Regelung in der jeweils gültigen Fassung.
Wird der BAT oder der maßgebende Vergütungstarif im Bereich der VKA durch einen anderen Tarifvertrag ersetzt, so tritt an die Stelle der vereinbarten BAT-Vergütungsgruppe die entsprechende Vergütungsgruppe des neuen Tarifvertrages unter Berücksichtigung etwaiger Überleitungsbestimmungen;
…
(2) Der Chefarzt erhält
a) das Liquidationsrecht für die gesondert berechenbaren wahlärztlichen Leistungen bei denjenigen Kranken, die diese Leistungen gewählt, mit dem Krankenhaus vereinbart und in Anspruch genommen haben;
b) das Liquidationsrecht für das Gutachterhonorar bei Aufnahmen zur Begutachtung, soweit die gesonderte Berechnung eines Gutachterhonorars neben dem Pflegesatz nach dem Pflegekostentarif des Krankenhauses in der jeweils gültigen Fassung zulässig ist;
…”
Rz. 3
Nach der Ersetzung des Bundes-Angestelltentarifvertrages (im Folgenden: BAT) durch den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst vom 13. September 2005 (im Folgenden: TVöD) zum 1. Oktober 2005 vergütete die Beklagte den Kläger nach Maßgabe dieses Tarifvertrags. Der Kläger erhielt zuletzt eine monatliche Vergütung entsprechend der Entgeltgruppe 15Ü der Anlage 1 zum Tarifvertrag zur Überleitung der Beschäftigten der kommunalen Arbeitgeber in den TVöD und zur Regelung des Übergangsrechts (im Folgenden: TVÜ-VKA) vom 13. September 2005.
Rz. 4
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, seit dem 1. August 2006 stehe ihm eine Vergütung nach Entgeltgruppe IV des TV-Ärzte/VKA zu. Eine ergänzende Vertragsauslegung ergebe die Anwendung der Vergütungsregelungen des TV-Ärzte/VKA. Bei letzterem handele es sich um einen seit dem 1. August 2006 geltenden speziellen und sachnäheren Ärztetarifvertrag für die an kommunalen Krankenhäusern beschäftigten Ärztinnen und Ärzte. Der TVöD sei dagegen ein allgemeiner, berufsgruppenübergreifender Tarifvertrag für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Hinzu komme, dass alle bei der Beklagten beschäftigten Ärzte mit Ausnahme der Chefärzte nach dem TV-Ärzte/VKA bezahlt würden.
Rz. 5
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab 1. August 2006 eine Dienstvergütung entsprechend der Entgeltgruppe IV des TV-Ärzte/VKA zu zahlen.
Rz. 6
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, der Kläger sei aufgrund der arbeitsvertraglichen Vereinbarung zum 1. Oktober 2005 in die Entgeltgruppe 15Ü TVöD übergeleitet worden. Mit dem rückwirkenden Inkrafttreten des TV-Ärzte/VKA sei der TVöD nicht ersetzt worden. Ein Wille der Arbeitsvertragsparteien, von zwei Tarifwerken dasjenige zu wählen, welches die höchste Vergütungsgruppe enthalte, lasse sich weder dem Vertrag noch den sonstigen Umständen als hypothetischer Parteiwille entnehmen. Zudem gelte der TV-Ärzte/VKA nicht für Chefärzte.
Rz. 7
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
Rz. 8
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des Arbeitsgerichts zu Unrecht zurückgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Vergütung nach Entgeltgruppe IV TV-Ärzte/VKA.
Rz. 9
I. Der TV-Ärzte/VKA findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Anwendung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG). Unabhängig von der fehlenden beiderseitigen Tarifgebundenheit gilt der TV-Ärzte/VKA nicht für Chefärzte, § 1 Abs. 2 TV-Ärzte/VKA. Chefärzte werden nach ausdrücklicher Regelung vom persönlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrags nicht erfasst. Darüber hinaus sind nach § 16 Buchst. d TV-Ärzte/VKA in Entgeltgruppe IV (nur) Leitende Oberärzte, denen die ständige Vertretung des Chefarztes übertragen ist (zu den Eingruppierungsmerkmalen des § 16 Buchst. d TV-Ärzte/VKA vgl. BAG 9. Dezember 2009 – 4 AZR 836/08 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Arzt Nr. 5), nicht aber Chefärzte eingruppiert.
Rz. 10
II. Ein Anspruch des Klägers auf Vergütung nach Entgeltgruppe IV TV-Ärzte/VKA ergibt sich nicht aus dem Arbeitsvertrag.
Rz. 11
1. Gemäß § 8 Abs. 1a des Arbeitsvertrags erhält der Kläger für seine Tätigkeit im dienstlichen Aufgabenbereich als feste Vergütung Grundvergütung und Ortszuschlag entsprechend VergGr. I der Anlage 1a zum BAT in der für Mitglieder der VKA jeweils gültigen Fassung. Bei Ersetzung des BAT oder des maßgeblichen Vergütungstarifvertrags tritt an die Stelle der VergGr. I BAT die entsprechende Vergütungsgruppe des neuen Tarifvertrags unter Berücksichtigung etwaiger Überleitungsbestimmungen. Diese Vereinbarung enthält eine kleine dynamische Bezugnahme.
Rz. 12
a) Bei § 8 Abs. 1a des Arbeitsvertrags handelt es sich um eine Klausel, wie sie vielfach, auch in Verträgen anderer Chefärzte der Beklagten, verwendet wird und damit um eine Allgemeine Geschäftsbedingung (§ 305 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BGB), zumindest unstreitig um typische Erklärungen. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen sind. Ansatzpunkt für die Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen ist in erster Linie der Vertragswortlaut. Von Bedeutung für das Auslegungsergebnis sind ferner der von den Vertragsparteien verfolgte Regelungszweck sowie die der jeweils anderen Seite erkennbare Interessenlage der Beteiligten (BAG 19. März 2008 – 5 AZR 429/07 – Rn. 24 mwN, BAGE 126, 198). Die Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen ist durch das Revisionsgericht uneingeschränkt zu überprüfen (BAG 26. September 2007 – 5 AZR 808/06 – Rn. 13, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 58 = EzA BGB 2002 § 305c Nr. 13). Das gilt auch für die Auslegung typischer Erklärungen.
Rz. 13
b) Danach enthält § 8 Abs. 1a des Arbeitsvertrags eine kleine dynamische Bezugnahme.
Rz. 14
In § 8 Abs. 1a knüpfen die Parteien die Vergütung, obwohl Leitende Ärzte (Chefärzte) nach § 3 Buchst. i BAT von dessen Geltungsbereich ausgenommen sind und dementsprechend die Vergütungsordnungen zum BAT keine Eingruppierungsmerkmale für Chefärzte enthalten, pauschal an die VergGr. I der für den Bereich VKA geltenden Vergütungsordnung einschließlich der in § 26 BAT vorgesehenen Struktur einer Gesamtvergütung bestehend aus der Grundvergütung und dem Ortszuschlag an und gestalten sie dynamisch. Das ergibt sich aus dem Wortlaut der Vereinbarung. Die Vergütung soll sich nach der VergGr. I des BAT in der jeweils gültigen Fassung richten. Damit wollte die Beklagte das in ihrem Krankenhaus geltende Vergütungssystem des öffentlichen Dienstes auch für die Vergütung der Chefärzte im dienstlichen Aufgabenbereich anwenden und die dort stattfindende Vergütungsentwicklung nachvollziehen (vgl. BAG 9. Juni 2010 – 5 AZR 122/09 –; 16. Dezember 2009 – 5 AZR 888/08 – Rn. 14, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 73 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 44). Diese Auslegung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach Bezugnahmen im Arbeitsvertrag auf anderweitige Regelungen in der Regel dynamisch zu verstehen sind (13. November 2002 – 4 AZR 351/01 – zu III 1 b bb der Gründe, BAGE 103, 338; vgl. auch 9. November 2005 – 5 AZR 128/05 – Rn. 22, BAGE 116, 185).
Rz. 15
c) Der Wortlaut der Bezugnahmeklausel trägt allerdings neben der Erstreckung auf den TVöD auch eine solche auf den TV-Ärzte/VKA. Denn beide haben den BAT durch Tarifsukzession (vgl. dazu BAG 16. Dezember 2009 – 5 AZR 888/08 – Rn. 19 mwN, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 73 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 44) ersetzt, § 2 Abs. 1 TVÜ-VKA, § 2 Abs. 1 Tarifvertrag zur Überleitung der Ärztinnen und Ärzte in kommunalen Krankenhäusern in den TV-Ärzte/VKA und zur Regelung des Übergangsrechts (im Folgenden: TVÜ-Ärzte/VKA) vom 17. August 2006. Der BAT wurde auf Gewerkschaftsseite nicht nur von der Gewerkschaft ver.di bzw. deren Rechtsvorgängerinnen abgeschlossen, diese handelte aufgrund einer 1994 zwischen der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) und dem Marburger Bund geschlossenen Vereinbarung zugleich für den Marburger Bund, der im Jahre 2005 gegenüber der Gewerkschaft ver.di die zum Abschluss von Tarifverträgen erteilte Vollmacht widerrief, zugleich die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände zu Tarifvertragsverhandlungen über einen Tarifvertrag für Ärzte aufforderte und den BAT zum 31. Dezember 2005 kündigte (vgl. dazu BAG 27. Januar 2010 – 4 AZR 549/08 (A) – Rn. 3, AP TVG § 3 Nr. 46 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 23; Bayreuther NZA 2009, 935).
Rz. 16
2. Eine Auflösung der nach Vertragsschluss und bedingt durch die Tarifpluralität auf tariflicher Ebene eingetretenen Regelungspluralität hat durch ergänzende Vertragsauslegung zu erfolgen.
Rz. 17
a) Die Parteien wollten mit der Klausel des § 8 Abs. 1a des Arbeitsvertrags den den vereinbarten Tarifvertrag ersetzenden in Bezug nehmen, haben aber bei Abschluss des Arbeitsvertrags aufgrund der damaligen Tarifpraxis nicht bedacht (und auch nicht bedenken können), dass später auf tariflicher Ebene Tarifpluralität eintreten könnte. Die Vergütung kann sich nach dem Wortlaut nach mehreren unterschiedlichen Tarifverträgen richten, während die Parteien die Orientierung ihrer Vergütung an (nur) einem Tarifwerk gewollt haben. Damit ist nachträglich ein regelungsbedürftiger Sachverhalt entstanden, denn die arbeitsvertragliche Vergütungsvereinbarung bestimmt nicht, nach welchem Tarifwerk sich die Vergütung richten soll, wenn es durch den späteren Abschluss mehrerer Tarifverträge nachträglich mehrere mögliche Bezugnahmeobjekte gibt.
Rz. 18
b) Mithin ist die arbeitsvertragliche Vergütungsvereinbarung nach dem ihr zugrunde liegenden Regelungsplan zu vervollständigen und zu fragen, nach welchem Tarifwerk die Parteien ihre Vergütung gerichtet hätten, wenn sie bei Vertragsschluss bedacht hätten, dass der BAT durch mehrere Tarifverträge ersetzt werden könnte. Als redliche Vertragsparteien hätten die Parteien dasjenige ersetzende Tarifwerk gewählt, das überhaupt eine Vergütungsgruppe enthält, die die im Arbeitsvertrag benannte “Vergütungsgruppe I BAT” ersetzt oder ihr am nächsten kommt. Eine “Überleitung” bzw. “Ersetzung” der VergGr. I der Vergütungsordnung zum BAT erfolgte nur durch die Entgeltgruppe 15Ü TVöD (§ 4 Abs. 1 Satz 1 iVm. der Anlage 1 TVÜ-VKA, § 19 Abs. 2 TVÜ-VKA). Damit erhält der Kläger genau die Vergütung, die er arbeitsvertraglich vereinbart hat (BAG 9. Juni 2010 – 5 AZR 122/09 –).
Rz. 19
Die Entgeltgruppe 15Ü TVöD ist – jedenfalls bislang – auch dynamisch, ihre Tabellenwerte wurden zum 1. Januar 2008, 1. Januar 2009, 1. Januar 2010 sowie 1. Januar und 1. August 2011 erhöht. Dagegen enthält der TV-Ärzte/VKA überhaupt keine der VergGr. I der Vergütungsordnung zum BAT entsprechende Entgeltgruppe und hat zudem ein gegenüber dem früheren BAT vollständig neues Eingruppierungssystem für die von ihm erfassten Ärztinnen und Ärzte (also nicht für Chefärzte) geschaffen, §§ 16 ff. TV-Ärzte/VKA. Einer derartigen diskontinuierlichen Ersetzung ihrer Vergütungsabrede hätten redliche Vertragsparteien nicht den Vorzug gegenüber der mit einer Vergütung entsprechend Entgeltgruppe 15Ü TVöD kontinuierlichen Entwicklung gegeben (ähnlich Anton ZTR 2009, 2, 5). Es wäre keine angemessene Lösung, im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung die Vergütungsvereinbarung und die Vergütung der Parteien auf ein “neues System” umzustellen, wenn ein die Kontinuität der bisherigen Vergütungsabrede wahrendes Vergütungssystem zur Verfügung steht. Dass über die von den Parteien gewollte Dynamisierung der Vergütung hinaus der Kläger auch an strukturellen Änderungen der tariflichen Vergütungsregelungen oder an neuen Entgeltsystemen für Ärzte, die nicht Chefärzte sind, teilhaben soll, lässt sich dem Regelungsplan des § 8 Abs. 1a des Arbeitsvertrags nicht entnehmen (vgl. zu einer gleichlautenden Klausel BAG 9. Juni 2010 – 5 AZR 122/09 –). Dafür hat der Kläger auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte vorgebracht.
Rz. 20
c) Ein anderes Auslegungsergebnis lässt sich nicht damit begründen, der TV-Ärzte/VKA sei der “speziellere” Tarifvertrag. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob dem tatsächlich so ist (verneinend etwa Bayreuther NZA 2009, 935: “tarifrechtlich (…) gleichwertig”). Jedenfalls für Chefärzte ist der TV-Ärzte/VKA schon deshalb nicht “spezieller”, weil er für sie ebenso wie der TVöD nicht gilt, § 1 Abs. 2 TV-Ärzte/VKA, und keine Regelungen für die Berufsgruppe der Chefärzte enthält. Zudem handelt es sich bei dem Prinzip der Sachnähe oder Spezialität um eine tarifrechtliche Kollisionsregel, die dazu dient, eine Tarifkonkurrenz aufzulösen (vgl. dazu ErfK/Franzen 11. Aufl. § 4 TVG Rn. 65 ff. mwN; BAG 9. Dezember 2009 – 4 AZR 190/08 – Rn. 49, AP TVG § 3 Nr. 48 = EzA TVG § 3 Nr. 34). Eine Tarifkonkurrenz kann aber bei der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag nicht entstehen (BAG 29. August 2007 – 4 AZR 767/06 – Rn. 20, BAGE 124, 34; 27. Januar 2010 – 4 AZR 549/08 (A) – Rn. 99, AP TVG § 3 Nr. 46 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 23). Für die ergänzende Vertragsauslegung ist deshalb das tarifrechtliche Prinzip der Spezialität ohne Belang, sofern sich nicht aus dem Regelungsplan des Vertrags Gegenteiliges ergibt.
Rz. 21
d) Soweit der Kläger in der Revision auf das Urteil des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 19. Mai 2010 (– 4 AZR 796/08 – Rn. 39 ff., AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 76 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 48) hinweist, führt dies ebenfalls nicht zu einem anderen Auslegungsergebnis. Der Vierte Senat führt in der angezogenen Entscheidung zu einer Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag eines Erziehers aus, nach Sinn und Zweck einer Inbezugnahme tariflicher Regelungen sei ua. das dem BAT nachfolgende Tarifwerk zur Geltung zu bringen, das typischerweise gelten würde, wenn die ausgeübten Tätigkeiten innerhalb des Öffentlichen Dienstes erbracht würden. Im Weiteren wird erörtert, dass der Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst der Länder sachnäher als der TVöD sei. Die Sachnähe zum TV-Ärzte/VKA fehlt jedoch, weil der TV-Ärzte/VKA für Chefärzte nicht gilt und zudem keine der VergGr. I BAT entsprechende bzw. aus dieser überleitende Vergütungsgruppe enthält. Sie ist im Gegenteil gerade im Hinblick auf die Entgeltgruppe 15Ü TVöD gegeben. Allein, dass der Kläger Arzt ist, führt nicht zu einer doppelten Ersetzung der vereinbarten Vergütungsgruppe (zunächst am 1. Oktober 2005 und sodann erneut am 1. August 2006). Auch der (nicht festgestellte) Organisationsgrad von Chefärzten beim Marburger Bund und die Tatsache, dass dieser ggf. auch Interessen von Chefärzten vertritt, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Marburger Bund einen Entgelttarifvertrag abgeschlossen hat, der nach seinem persönlichen Geltungsbereich Chefärzte erfasst.
Rz. 22
e) Eine Vergütung entsprechend dem TV-Ärzte/VKA hätten die Parteien nach Treu und Glauben als redliche Vertragsparteien auch nicht deshalb vereinbaren müssen, weil Chefärzte stets mehr verdienen müssten als ihr in Entgeltgruppe IV TV-Ärzte/VKA eingruppierter ständiger Vertreter.
Rz. 23
Einen allgemeinen Grundsatz, ein Vorgesetzter sei stets höher zu vergüten als seine ihm unterstellten Mitarbeiter, gibt es im Arbeitsrecht ebenso wenig wie ein “Abstandsgebot” (BAG 9. Juni 2010 – 5 AZR 122/09 –; vgl. für tarifliche Vergütungsregelungen auch 17. Dezember 2009 – 6 AZR 665/08 – AP TVÜ § 4 Nr. 1). Überdies erzielt ein Chefarzt aufgrund der Einräumung des Liquidationsrechts als variablen weiteren Vergütungsbestandteil neben der Festvergütung in der Regel ein höheres Einkommen als die ihm unterstellten Ärzte. Genauso wenig lässt sich (entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts) dem Regelungsplan der Parteien entnehmen, dass der Kläger mit der Grundvergütung immer genauso viel verdienen müsse, wie ein ihm unterstellter Oberarzt. Der Vertrag spiegelt lediglich einen Willen der Parteien wider, dem Kläger die höchste bei Abschluss des Vertrags bekannte Vergütungsgruppe zu gewähren. Die vertragliche Orientierung an der VergGr. I BAT lässt noch nicht einmal einen Schluss auf die Vereinbarung einer arztspezifischen Vergütung zu.
Rz. 24
f) Eine Vergütung entsprechend der Entgeltgruppe IV TV-Ärzte/VKA im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung käme selbst dann nicht in Betracht, wenn die Beklagte allen Ärzten, die nicht Chefärzte sind und die sie vor dem 1. Oktober 2005 nach der Vergütungsordnung zum BAT vergütete, ab 1. August 2006 Vergütung nach dem TV-Ärzte/VKA gewähren würde. Aus einer zum Zeitpunkt des Abschlusses des Arbeitsvertrags erfolgten, der damaligen Tarifeinheit im öffentlichen Dienst folgenden einheitlichen Anwendung eines tariflichen Vergütungssystems auf alle bei ihr beschäftigten Ärzte einschließlich der Chefärzte ließe sich ein hypothetischer Wille der Beklagten, daran bei späterer Tarifpluralität für Ärzte, die nicht Chefärzte sind, festhalten zu wollen, nicht herleiten. Dafür bietet der Regelungsplan des § 8 Abs. 1a des Arbeitsvertrags keine Anhaltspunkte.
Rz. 25
Auch der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz – so er im Bereich der Vergütung trotz des Vorrangs der Vertragsfreiheit überhaupt Anwendung findet (vgl. dazu BAG 15. Juli 2009 – 5 AZR 486/08 – AP BGB § 242 Gleichbehandlung Nr. 209 = EzA BGB 2002 § 242 Gleichbehandlung Nr. 20; 17. März 2010 – 5 AZR 168/09 – AP BGB § 242 Gleichbehandlung Nr. 211 = EzA BGB 2002 § 242 Gleichbehandlung Nr. 22) – könnte in diesem Falle die Beklagte nicht zur “Überleitung” der Chefärzte in den TV-Ärzte/VKA verpflichten, weil eine Differenzierung zwischen der Gruppe der Chefärzte und der Gruppe der “sonstigen Ärzte” schon aufgrund von § 1 Abs. 2 TV-Ärzte/VKA sachlich gerechtfertigt wäre.
Rz. 26
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Laux, Schlewing, Spelge, Hromadka, Reinders
Fundstellen
Haufe-Index 2737942 |
FA 2011, 314 |
NZA 2012, 416 |
ZTR 2011, 626 |
AP 2012 |
öAT 2011, 235 |