Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80% oder 100%
Leitsatz (redaktionell)
§ 7 des Manteltarifvertrages für gewerbliche Arbeitnehmer sowie gewerblich Auszubildende in den Handwerken Gas- und Wasserinstallateur, Zentralheizungs- und Lüftungsbauer (einschließlich Klimaanlagenbauer), Spengler (Flaschner, Klempner), Kupferschmied (Apparate- und Rohrleitungsbauer) in Bayern vom 18. November 1994 enthält eine konstitutive Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und begründet einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts in Höhe von 100%.
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des
Landesarbeitsgerichts München vom 16. Dezember 1998 - 7 Sa
55/98 - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 11. Januar 1988 als Lüftungsdeckenbauer beschäftigt. Im Januar 1997 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte zahlte für diesen Zeitraum Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % des regulären Bruttoentgelts des Klägers. Der Kläger verlangt mit seiner Klage die Differenz zu 100 % in unstreitiger Höhe.
Die Parteien sind tarifgebunden. Der einschlägige Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer sowie gewerblich Auszubildende in den Handwerken Gas- und Wasserinstallateur, Zentralheizungs- und Lüftungsbauer (einschließlich Klimaanlagenbauer), Spengler (Flaschner, Klempner), Kupferschmied (Apparate- und Rohrleitungsbauer) in Bayern vom 18. November 1994 (im folgenden MTV) bestimmt ua.:
"§ 7
Krankheit und Todesfall
1. Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, dem Arbeitgeber die
Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich
nach Dienstbeginn - ggf. fernmündlich - mitzuteilen.
...
2. Für die Zahlung des Lohnes im Krankheitsfalle gelten die
gesetzlichen Bestimmungen, soweit nachfolgend nichts anderes
bestimmt ist.
Das Arbeitsentgelt gemäß § 3 des Entgeltfortzahlungsgesetzes
bemißt sich nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst, den der
Arbeitnehmer in den letzten 13 Wochen bzw. den diesem Zeitraum
entsprechenden Lohnabrechnungsperioden vor Beginn der
Arbeitsunfähigkeit erhalten hat. Bei Verdiensterhöhungen nicht nur
vorübergehender Natur, die während des Berechnungszeitraumes oder
der Arbeitsunfähigkeit eintreten, ist von dem erhöhten Verdienst
auszugehen.
Der so festgestellte Verdienst ist durch die Zahl der im
Berechnungszeitraum bezahlten regelmäßigen tariflichen
Arbeitsstunden zu teilen. Das Ergebnis stellt den Geldfaktor dar,
welcher mit der Zahl der während der Arbeitsunfähigkeit
ausgefallenen regelmäßigen tariflichen Arbeitsstunden zu
vervielfältigen ist; solange kurz gearbeitet wird, tritt die
verkürzte Arbeitszeit anstelle der tariflichen Arbeitszeit."
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, § 7 MTV enthalte eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 684,14 DM brutto nebst 4 % Zinsen
aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit Klagezustellung zu
zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, § 7 MTV enthalte in Absatz 1 der Ziff. 2 eine dynamische Verweisung und regele in Absatz 2 der Ziff. 2 lediglich die Bemessungsgrundlage für die Entgeltfortzahlung abweichend vom Gesetz.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Zurückweisung der Berufung des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Der Kläger kann für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung in voller Höhe verlangen. Dies folgt aus § 3 Abs. 1 EFZG iVm. § 7 Ziff. 2 MTV.
I. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I S 1476) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie betrug nach der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung des § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG "80 v.H. des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts". Bestehende tarifliche Regelungen wurden durch die gesetzliche Neuregelung nicht aufgehoben. Der Gesetzgeber des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612 S 2; Buchner NZA 1996, 1177, 1179 f.).
II. § 7 Ziff. 2 MTV enthält eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die gesetzliche Neuregelung mit der Absenkung der Entgeltfortzahlung von 100 % auf 80 % der Bezüge wirkt sich deshalb im Verhältnis der Parteien nicht aus.
1. In diesem Zusammenhang finden die Grundsätze über die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung. Diese folgen den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Tarifwortlaut hinaus zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lassen sich auch so zuverlässige Auslegungsergebnisse nicht gewinnen, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Anhaltspunkte zurückgreifen, etwa die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages (BAG in st. Rspr., vgl. 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 - BAGE 89, 95, 101 f.).
2. Der Senat hat einen tariflichen Anspruch auf Fortzahlung von 100 % des Arbeitsentgelts dann bejaht, wenn die Tarifvertragsparteien eine umfassende, rechnerisch lückenlose Regelung über die Bemessung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall getroffen, sie also auch das Ergebnis der Berechnung vorgegeben haben (BAG 16. Juni 1998 - 5 AZR 728/97 - BAGE 89, 119; 26. August 1998 - 5 AZR 740/97 - BAGE 89, 330 und - 5 AZR 769/97 - AP TVG § 1 Tarifverträge Holz Nr. 17; 16. Dezember 1998 - 5 AZR 462/98 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Steine-Erden Nr. 4). Hingegen wurde eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung verneint, wenn die tarifliche Regelung lediglich die Methode und die Grundlagen der Berechnung der Lohnfortzahlung anders als das Gesetz bestimmt hat (BAG 26. August 1998 - 5 AZR 26/98 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 164; 21. Oktober 1998 - 5 AZR 92/98 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Gaststätten Nr. 5 und - 5 AZR 155/98 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Klempnerhandwerk Nr. 1; 8. September 1999 - 5 AZR 671/98 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Holz Nr. 19).
3. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen, daß sich der vom Kläger geltend gemachte Anspruch aus § 7 Ziff. 2 Abs. 2 und 3 des MTV ergibt.
Die Tarifvertragsparteien haben in § 7 Ziff. 2 Abs. 2 und 3 MTV eine umfassende, rechnerisch lückenlose Regelung über die Bemessung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall geschaffen. Mit der Verknüpfung von Berechnungsmethode und Berechnungsgrundlage mit einem Divisor (der Zahl der im Referenzzeitraum bezahlten regelmäßigen tariflichen Arbeitsstunden) und einem bestimmten Faktor (der Zahl der durch Krankheit ausgefallenen regelmäßigen tariflichen Arbeitsstunden) haben sie zwangsläufig auch die Höhe der Entgeltfortzahlung mit 100 % der entsprechenden Vergütung festgelegt (vgl. BAG 16. Dezember 1998 - 5 AZR 462/98 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Steine-Erden Nr. 4).
In § 7 Ziff. 2 Abs. 2 MTV haben die Tarifvertragsparteien die Berechnungsmethode dadurch festgelegt, daß sie die Referenz auf die vorausgegangenen 13 Wochen bzw. entsprechende Lohnabrechnungsperioden vereinbart haben. Auch die Berechnungsgrundlage ist - wenn auch nicht sehr differenziert - festgelegt. Es gilt insoweit "der durchschnittliche Arbeitsverdienst". "Bei Verdiensterhöhungen nicht nur vorübergehender Natur, die während des Berechnungszeitraumes oder Arbeitsunfähigkeit eintreten, ist von dem erhöhten Verdienst auszugehen".
Im darauffolgenden Absatz wird sodann geregelt, wie der "Geldfaktor" zu ermitteln ist, nämlich indem der nach Absatz 2 "festgestellte Verdienst durch die Zahl der im Berechnungszeitraum bezahlten regelmäßigen tariflichen Arbeitsstunden zu teilen" ist. Im letzten Satz von § 7 Ziff. 2 MTV ist sodann festgelegt, daß der so ermittelte Stundenlohn - der "Geldfaktor" - mit der Zahl der während der Arbeitsunfähigkeit ausgefallenen regelmäßigen tariflichen Arbeitsstunden zu vervielfältigen ist. Der sich aus dieser Berechnung ergebende Betrag ist der, der für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit zu leisten ist.
Wenn die Revision demgegenüber unter Hinweis auf die Entscheidung des Senats vom 21. Oktober 1998 (- 5 AZR 155/98 - aaO) darauf verweist, es werde gerade nicht das Ergebnis der Berechnung, sondern nur der Weg aufgezeigt, es bleibe offen, in welcher Höhe nun das Arbeitsentgelt zu zahlen sei, überzeugt dies nicht. Die seinerzeit behandelte Vorschrift unterscheidet sich wesentlich von der hier in Rede stehenden Regelung. Dort wurden nicht im direkten Zusammenhang mit der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auch die Verknüpfung der verschiedenen Berechnungsfaktoren vorgegeben. Vorliegend ist ähnlich wie in der Entscheidung des Senats vom 16. Dezember 1998 (- 5 AZR 462/98 - aaO) im einzelnen aufgeführt, wie zur Ermittlung der Vergütung noch die letzten notwendigen Rechenschritte vorzunehmen sind. Es werden nicht lediglich die einzelnen Berechnungsfaktoren eher beziehungslos zueinander gestellt. Eine solche Berechnungsformel können die Tarifunterworfenen nur so verstehen, daß das Ergebnis der Berechnung den Anspruchsbetrag ausmacht. Deshalb spielt es auch keine Rolle, daß im Anschluß an § 7 Ziff. 2 MTV nicht noch eine weitere Regelung aufgenommen wurde, die ausdrücklich sagt, daß das Ergebnis der Berechnung den für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit auszuzahlenden Betrag ergibt. Die Tarifvorschrift stellt die vorzunehmende Berechnung besonders ausführlich dar. Dadurch, daß der "Geldfaktor" mit den gerade durch die Arbeitsunfähigkeit für den von dieser betroffenen Arbeitnehmer ausgefallenen Arbeitsstunden zu vervielfältigen ist, fehlt kein Berechnungsschritt mehr, um den auf diesen Arbeitnehmer entfallenden Betrag zu ermitteln. Die Frage nach der Höhe des Anspruchsbetrages stellt sich angesichts dessen für die Tarifunterworfenen nicht mehr.
Griebeling M Müller-Glöge Kreft
Müller Zorn
Fundstellen
Haufe-Index 610989 |
SAE 2001, 198 |
AP, 0 |