Dr. Wolf-Dietrich Deckert†
Leitsatz
Augenschein durch blinden Richter (Vorsitzender der Beschwerdekammer)
Normenkette
§ 22 Abs. 1 WEG, § 1004 BGB, § 551 Nr. 1 ZPO
Kommentar
1. Im Sinne gesicherter Rechtsprechung und h.R.M. ist eine Balkonverglasung als bauliche und optische Veränderung für die betroffenen Wohnungseigentümer regelmäßig auch nachteilig. Im vorliegenden Fall hatte das Amtsgericht Augenscheinseinnahme durchgeführt und festgestellt, dass die Balkonverglasung der Antragsgegner (als einzige am Gebäude) eine erhebliche optische Beeinträchtigung darstelle. Der Beseitigungsantrag der Antragstellerseite konnte vorliegend auch nicht als verwirkt angesehen werden. Ebenso konnte eine ereilte Baugenehmigung nicht die Rechte der Miteigentümer berühren.
2. Im Erstbeschwerdeverfahren haben die beisitzenden Richter der Kammer dem blinden Vorsitzenden ein zu den Akten gereichtes Foto beschrieben und erläutert, sich damit gleichsam als "Augenscheinsgehilfen" betätigt. Insgesamt gesehen war bei dieser Sachlage der Augenschein im wörtlichen Sinne durch einen dritten sehenden Richter nicht erforderlich, so dass auch nicht eine fehlerhafte Besetzung des Gerichts mit Erfolg gerügt werden konnte ( § 551 Nr. 1 ZPO). Diesem Ergebnis steht auch nicht die BGH-Entscheidung (BGHZ 38, 347) entgegen, die einen blinden Notar betraf; aus diesem Grund erübrigte sich auch eine Vorlage dieser Sachlage zum BGH. Zum Strafrecht existieren i.Ü. unterschiedliche Meinungen an körperlichen Gebrechen oder Blindheit leidenden Richtern hinsichtlich Eignung und Befähigung zur Amtsausübung (was in der Entscheidung näher belegt wird). Zum Zivilrecht hat schon das Rechtsgericht (RGZ 124, 153) die Mitwirkung eines blinden Richters unter den gegebenen Umständen für zulässig gehalten; dem folgte bereits das OLG Frankfurt (MDR 54, 368) und hat gegen die Beteiligung eines blinden Richters im Beschwerdeverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit keine Bedenken erhoben. Die eingangs erwähnte BGH-Entscheidung (BGHZ 38, 347) musste sich i.Ü. allein damit beschäftigen, ob ein Blinder zum Notar bestellt werden könne; das Gericht erwähnte in diesem Zusammenhang beiläufig, dass ein blinder Richter seine Aufgaben allein dann nicht mehr wahrnehmen könne, wenn er sich einen auf persönlicher Wahrnehmung beruhenden Eindruck vom Aussehen einer Person oder Sache machen müsse. Bei einer Augenscheinseinnahme wie im vorliegenden Fall sei es deshalb Auffassung des Senats, dass nicht generell davon ausgegangen werden könne, dass ein blinder Richter an der Mitwirkung gehindert sei; es sei vielmehr eine differenzierende Betrachtung des Einzelfalles geboten, weil ein Blinder erfahrungsgemäß den Verlust des Augenlichtes durch die Stärkung und Verfeinerung der anderen Sinne und die Zunahme des Gedächtnisses ausgleichen könne (so auch Schulze, MDR 88, 736/741). Aus diesem Grund komme nicht nur beim Kollegialgericht die Übertragung des Augenscheins auf den beauftragten Richter, sondern bei der Vorlage von Lichtbildern auch deren Beschreibung in Betracht. Die Grenze sei dort zu ziehen, wo die Betrachtung mit eigenen Augen für die Entscheidungsfindung unerlässlich sei, weil die Wahrnehmung mit dem Auge ebenso bedeutsam sei, wie sonst die mit dem Gehör. Diese Grenze sei vorliegend nicht erreicht worden.
3. Keine außergerichtliche Kostenerstattung bei Geschäftswertansatz von 4.000 DM.
Link zur Entscheidung
( OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 19.04.1994, 20 W 30/94)
Zu Gruppe 5: Rechte und Pflichten der Miteigentümer