Entscheidungsstichwort (Thema)

Sondernutzung. materiell bürgerlich-rechtliche Sondernutzung in öffentlich-rechtlichem Gewand. Ermächtigungsgrundlage für Sondernutzungsgebührensatzungen. Verhältnis zum Kommunalabgabengesetz. gesamtschuldnerische Haftung für Sondernutzungsgebühren bei Wohnungseigentümergemeinschaften (verneint). Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Abgabeschuld im Sondernutzungsgebührenrecht. Gebührenmaßstäbe. Abstufung von Sondernutzungsgebühren. Bestimmtheit von Gebührenbescheiden. Verwirkung. Vertrauensschutz bei langjähriger Nichterhebung von Sondernutzungsgebühren (verneint). Sondernutzungsgebühren. Berufung des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 12. Mai 2005

 

Leitsatz (amtlich)

1. Im Recht der Sondernutzungsgebühren nach Art. 18 ff. BayStrWG ist die Heranziehung eines einzelnen Wohnungseigentümers als Gesamtschuldner für eine die Wohnanlage betreffende Sondernutzung unzulässig. Gebührenschuldner ist vielmehr im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Teilrechtsfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft (Beschluss vom 2.6.2005 – V ZB 32/05) die Gemeinschaft selbst.

2. Eine Satzungsbestimmung, die für nicht gesondert geregelte Sondernutzungstatbestände die entsprechende Anwendung solcher geregelter Tatbestände anordnet, welche den nicht geregelten Tatbeständen am ähnlichsten sind, verstößt gegen den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Abgabeschuld und ist nichtig.

3. Die Erhebung von Sondernutzungsgebühren setzt nicht voraus, dass für die Sondernutzung eine Erlaubnis erteilt ist.

4. Bei Sondernutzungen für die Inanspruchnahme des Luftraums über öffentlichen Straßen außerhalb des Verkehrsraums (z.B. Balkon) ist die Gebührenschuld grundsätzlich nur nach dem wirtschaftlichen Interesse des Gebührenschuldners zu bemessen. Dieses darf in entsprechender Anwendung von § 905 BGB nur bis zu der Grenze herangezogen werden, innerhalb der der Träger der Straßenbaulast noch ein Interesse am Ausschluss von Einwirkungen auf den Luftraum über der Straße hat.

5. Zur Anwendung des Grundsatzes der Verwirkung bei Sondernutzungsgebühren.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1; BV Art. 11 Abs. 2, Art. 101; BayStrWG Art. 2 Nr. 2, Art. 18 Abs. 1, 2a, Art. 22, 22a; BauGB § 134 Abs. 1 S. 4; KAG Art. 2 Abs. 1, Art. 5, 8, 10, 13; AO §§ 38, 44, 119, 157, 169 Abs. 2 S. 1; BGB § 905; WEG § 5 Abs. 1-2; Sondernutzungsgebührensatzung der Stadt

 

Verfahrensgang

VG München (Urteil vom 12.05.2005; Aktenzeichen M 10 K 04.4087)

 

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 12. Mai 2005 wird geändert: Der Bescheid der Beklagten vom 15. Oktober 2003 und der Widerspruchsbescheid der Regierung von Oberbayern vom 1. Juli 2004 werden aufgehoben.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid vom 15. Oktober 2003 über Sondernutzungsgebühren in Höhe von 8.655,67 Euro, die die Beklagte für die Jahre 1999 bis 2003 festgesetzt hat, und über künftige jährliche Sondernutzungsgebühren in Höhe von 1.727 Euro.

Der Kläger ist als Inhaber einer Wohnung Miteigentümer in der Wohnungseigentümergemeinschaft …straße … und … in München. Die Wohnanlage wurde mit Bescheid der Beklagten vom 23. April 1964 bauaufsichtlich genehmigt; danach ergingen noch einzelne Tekturgenehmigungen. Die Baugenehmigung selbst enthielt auch eine Befreiung nach Art. 88 der Bayerischen Bauordnung (BayBO, Fassung vom 1.8.1962, GVBl S. 179) „wegen Nichteinhaltung der nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsfläche zur Hofseite, geringfügige Überschreitung der Grundstücksgrenze und Überschreitung der Straßenmitte”. Die Wohnanlage besteht aus einem Erdgeschoss, fünf Obergeschossen und einem Dachgeschoss. Sie weist zur Straße hin ein Vordach und fünf mal sechs Balkone auf, d.h. pro Obergeschoss ist für eine Wohnungseinheit ein Balkon zur Straße hin vorhanden. Diese 30 Balkone und das Vordach ragen in den öffentlichen Straßenraum hinein, und zwar die Balkone jeweils 1,2 m und das Vordach 0,4 m. Die Erteilung einer entsprechenden Sondernutzungserlaubnis im zeitlichen Zusammenhang mit der Baugenehmigung wurde offenbar übersehen. Der Kläger selbst ist nur Inhaber einer Wohnung ohne Balkon.

Die Satzung über die Gebühren für Sondernutzungen auf öffentlichen Straßen in der … (Sondernutzungsgebührensatzung – SGS) vom 5. Juni 1995 (MüABl. S. 104), zuletzt geändert durch Satzung vom 29. Juni 2004 (MüABl. S. 266), lautet auszugsweise:

„§ 4 Höhe der Gebühren

(1) Die Höhe der Gebühren wird bestimmt durch die Verkehrsbedeutung der Straßen, Wege und Plätze, in denen die Sondernutzung ausgeübt wird, durch den wirtschaftlichen Wert für den Benutzer, durch den Umfang, in dem der Gemeingebrauch beeinträchtigt werden kann und durch die Dauer der Sondernutzung.

(2) Die Bedeutung der Straßen, Wege...

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