Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Einstellung der Leistung ohne Rechtsgrundlage. Sofortvollzug. Streitgegenstand. Vorwegnahme der Rücknahmeentscheidung im "kalten Vollzug". Ermessen über Art und Maß der Leistungserbringung im SGB 12

 

Leitsatz (amtlich)

1. In Anordnungssachen fällt der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen dabei umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt.

2. In Anordnungssachen sind vorab die formalen Voraussetzungen der verwaltungsseitigen Anordnung zu prüfen.

3. Die Anordnung des Sofortvollzugs durch die Verwaltung muss eine schriftliche Begründung des besonderen Interesses enthalten, das die sofortige Vollziehung rechtfertigen soll.

4. Das Übergehen eines wesentlichen Abwägungsgesichtspunktes (hier: Einstellen der Leistung ohne Rechtsgrundlage) führt zur Aufhebung der Vollziehung.

5. Im Wege der Folgenbeseitigung kann das Gericht gemäß § 86b Abs 1 S 2 SGG iVm § 938 Abs 1 ZPO die Aufhebung der Vollziehung sowie weitere Maßnahmen anordnen.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss vom 17. Mai 2010 wird unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Augsburg vom 17.05.2010 Ziffer IV (sofortige Vollziehbarkeit der Rücknahme des Bescheides vom 27.07.2009) des Bescheides vom 23.4.2010 aufgehoben.

II. Dem Antragsteller sind seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der 1935 geborene Antragsteller bezog ab 01.02.2006 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vom Antragsgegner. Dieser stellte aber am 29.07.2009 die Zahlungen ein ("Stornierung").

Am 04.05.2010 verlangte der Antragsteller eine "einstweilige Anordnung" vom Sozialgericht Augsburg (SG). Schon zuvor hatte er am 23.04.2010 Klage (Az. S 15 SO 42/10) erhoben.

Mit seiner Klage wendet sich der Antragsteller gegen die mit Bescheid vom 23.04.2010 vom Antragsgegner vorgenommene Rücknahme aller Bewilligungsbescheide seit dem 27.10.2006 sowie die Rücknahme eines Bescheides vom 27.01.2010, mit dem ihm die Weiterzahlung der Grundsicherung abgelehnt worden ist. Zuletzt hatte aber der Antragsgegner mit Bescheid vom 27.07.2009 Grundsicherungsleistungen vom 01.05.2009 bis 30.04.2010 bewilligt. Der Bescheid vom 23.04.2010 enthält auch einen Rückforderungsbescheid, mit dem die für die Zeit ab 01.04.2006 bewilligten Sozialhilfeleistungen in Höhe von 11.713,55 € zurückgefordert wurden. Die Erstattung habe innerhalb von vier Wochen nach Bestandskraft des Bescheides zu erfolgen. Die Entscheidung wurde in Ziffer IV bezogen auf den Bescheid vom 27.07.2009 für sofort vollziehbar erklärt.

Am 30.05.2010 hatte der Antragsteller Widerspruch beim Antragsgegner erhoben.

Mit Beschluss vom 17.05.2010 hat das SG "den Antrag abgelehnt". Dazu hat es ausgeführt, dass der Antragsteller am 04.05.2010 zwar einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt habe. Das Vorbringen sei in der Sache aber so zu verstehen, dass es dem Antragsteller ausschließlich um Zahlung ausstehender Leistungen durch den Antragsgegner gehe, nicht um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Rückforderung im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23.04.2010. Für eine Verpflichtung des Antragsgegners zu einer vorläufigen Nachbezahlung der ausstehenden Leistungen bis 30.04.2010 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache müsste eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Antragsgegner die Leistungsbewilligung zu Unrecht aufgehoben habe, wovon nicht auszugehen sei.

Am 25.05.2010 hat der Kläger gegen den am 21.05.2010 zugestellten Beschluss Beschwerde eingelegt. In einem an das SG am 25.05.2010 gerichteten Schriftsatz beantragte der Ast, ihm die zustehenden Grundsicherungsleistungen unverzüglich "weiterzugewähren" - bzw. rückwirkend seit April 2009. Der Eilantrag sei schon deswegen geboten, weil die Lebenshaltung nicht mit einer Rente von 293 Euro möglich sei.

Am 26.05.2010 hat der Antragsteller seine Klage zurückgenommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Das Rechtsschutzbedürfnis ist durch die Rücknahme der Hauptsache per Fax am 26.05.2010 (Klage unter dem Aktenzeichen S 15 SO 42/10) nicht entfallen. Der Widerspruch des Antragstellers vom 04.05.2010 (Schriftsatz 01.05.2010) gegen den Bescheid vom 23.04.2010 ist bei der Antragsgegnerin noch anhängig. Dessen aufschiebende Wirkung ist weiterhin im Streit. Gleichzeitig mit der Klage wollte der Kläger nicht seinen Widerspruch zurücknehmen. Vielmehr kam zum Ausdruck, dass seine Rechtsanwälte später erneut Klage erheben würden. Damit zeigt sich, dass er sich bewusst war, dass eine notwendige Sachurteilsvoraussetzung (gehörige Durchführung eines Widerspruchsverfahrens) gefehlt hat.

Der Antrag ist seinem Gegenstand nach in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem Bescheid vom 23.04.2010 erfolgt. Darin regelte die Antragsgegnerin die Rücknahme aller Bewilligungsbescheide seit dem 27.10.2006...

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