Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren: Umfang der Überprüfung einer Beschwerde gegen die Entscheidung zur Übernahme von Gutachterkosten. Zulässigkeit der sachverständigen Begutachtung in den Gerichtsräumen in enger zeitlicher Nähe zur mündlichen Verhandlung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Im Rahmen der Beschwerdeentscheidung nach § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG ist die Befugnis zur Ausübung des Ermessens in vollem Umfang auf das Beschwerdegericht übergegangen (Fortführung d. Rspr. vom 19.12.2012 - Az.: L 15 SB 123/12 B).

2. Das Verfahren, dass ein gerichtlich bestellter Sachverständiger ein Gutachten am Tag vor der mündlichen Verhandlung aufgrund Untersuchung des Klägers in den Räumen des Gerichts erstellt und das Gutachten unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung den Beteiligten ausgehändigt wird, begegnet nicht von vornherein Bedenken. Sichergestellt sein muss aber, dass die persönliche Untersuchung des Klägers nach ihrer Zeitdauer und der Möglichkeit apparativer Untersuchungsmethoden ein ausreichendes Bild über die gesundheitliche Situation des Klägers vermittelt.

3. Bei orthopädischen Begutachtungen spielt die apparative Diagnostik regelmäßig eine wichtige Rolle.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Regensburg vom 16. Dezember 2011 aufgehoben. Die Kosten für das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten des Dr. T. S. vom 12.08.2011 werden auf die Staatskasse übernommen.

II. Der Beschwerdeführerin sind die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten war in der Hauptsache streitig, ob für die Klägerin und jetzige Beschwerdeführerin (im Folgenden: Klägerin) ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 50 festzusetzen ist.

In dem am Sozialgericht Regensburg (SG) unter dem Aktenzeichen S 12 SB 787/10 anhängig gewesenen Rechtsstreit der Klägerin gegen den Freistaat Bayern hat am 18.04.2011 Medizinaldirektor P. J. R. nach persönlicher Untersuchung der Klägerin, die in den Räumen des SG stattgefunden hatte, ein Gutachten erstellt. Dabei ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Gesamt-GdB von 50 vorliege. Am 19.04.2011 ist den anwesenden Beteiligten das Gutachten, das der Sachverständige nach Untersuchung am Vortag und Aktenlage erstattet hatte, vor Beginn der mündlichen Verhandlung ausgehändigt worden. Nach dem Antrag gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG), vom Orthopäden Dr. S. ein Gutachten einzuholen, ist der Rechtsstreit vertagt worden. In seinem Gutachten vom 12.08.2011 hat Dr. S. ebenfalls einen GdB von 50 festgestellt. Auch die Einzel-GdB stimmen mit den von dem Arzt R. getroffenen Feststellungen überein, mit Ausnahme der Einschätzung hinsichtlich der Funktionsbehinderung beider Kniegelenke.

In der mündlichen Verhandlung am 15.12.2011 hat die Klägerin nach Anregung durch den Vorsitzenden der Kammer (über ihren Bevollmächtigten) die Klage zurückgenommen und die Kostenübernahme für das Gutachten von Dr. S. auf die Staatskasse beantragt.

Mit Beschluss vom 16.12.2011 hat das SG die Kostenübernahme abgelehnt. In dem Gutachten von Dr. S. seien die medizinischen Befunde des Sachverständigen R. im Wesentlichen bestätigt worden. Beide Sachverständige würden den Gesamt-GdB mit 50 einschätzen. Damit habe das Gutachten von Dr. S. die medizinische Sachverhaltsklärung nicht wesentlich gefördert.

Mit Schreiben vom 03.01.2012 hat die Klägerin hiergegen Beschwerde erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, es könne nicht darauf ankommen, dass beide Gutachten mit demselben Ergebnis (Gesamt-GdB von 50) "enden" würden. Auch sei nicht richtig, dass die medizinischen Befunde des Sachverständigen R. vom Gutachter Dr. S. im Wesentlichen bestätigt worden seien; die Klägerin hat hier auf die unterschiedliche Beurteilung der Funktionsbehinderung der Kniegelenke verwiesen. Vielmehr habe das Gutachten von Dr. S. die Sachaufklärung wesentlich gefördert; die Rücknahme der Klage gerade im Hinblick auf das Gutachten von Dr. S. sei unerheblich.

Im Übrigen wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte des SG im oben genannten Verfahren und der Akte des LSG verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist sowohl zulässig als auch begründet.

Die Kosten für das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten sind vollständig auf die Staatskasse zu übernehmen.

Auf Antrag des behinderten Menschen muss nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann - wie dies im vorliegenden Fall auch erfolgt ist - davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten dafür vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts auch endgültig trägt (§ 109 Abs. 1 Satz 2 SGG). Eine "andere Entscheidung" in diesem Sinn hat die Klägerin beim SG beantragt.

Die Entscheidung darüber, ob die Kosten eines gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachtens auf die Staatskasse zu übernehmen sind, ist eine Ermessensentscheidung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 109, Rdnr. 16) des Gerichts, das das Gutachten angefordert hat ...

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