Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. zulässiges Rechtsschutzbegehren. ladungsfähige Anschrift. Angabe einer Wohnanschrift erforderlich. ausnahmsweises Entfallen der Pflicht. Postfachadresse nicht ausreichend. öffentliches Interesse an der Sicherung etwaiger gerichtlicher Kostenforderungen
Leitsatz (amtlich)
1. § 92 Abs 1 SGG erfordert bei natürlichen Personen in der Regel die Angabe der Wohnungsanschrift und ihrer Änderung.
2. Die Pflicht zur Angabe der Wohnungsanschrift kann ausnahmsweise entfallen, wenn besondere Gründe dies rechtfertigen, etwa Obdachlosigkeit oder ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse. Ein erfolgsloses Gewaltschutzverfahren gegen eine am Verfahren nicht beteiligte Person begründet grundsätzlich kein besonderes Geheimhaltungsinteresse.
3. Bei einem Postfach handelt es sich nicht um eine Anschrift im Sinne des § 92 SGG, denn ein Postfach ist nicht geeignet einen Antragsteller/Kläger zu identifizieren oder im sozialgerichtlichen Verfahren die örtliche Zuständigkeit des Gerichts zu begründen.
4. Ein Postfach der Deutschen Post AG ist keine ähnliche Vorrichtung im Sinne des § 180 ZPO, denn die AGB Postfach schließen eine Einlage von Postzustellungsaufträgen in das Postfach aus. Teilt der Kläger auch gegenüber der Deutschen Post AG seine aktuelle Wohnanschrift nicht mit, scheidet eine Zustellung nach § 176 Abs 2 ZPO aus.
5. Eine Zustellung an ein Postfach mittels Einschreiben mit Rückschein nach § 176 Abs 1 ZPO gewährleistet keine wechselseitige, verlässliche Kommunikation zwischen Gericht und klagender Partei, denn die Zustellung ist stets von einer Mitwirkungshandlung des Klägers abhängig.
6. Auch im nach § 183 SGG grundsätzlich kostenfreien sozialgerichtlichen Verfahren besteht ein öffentliches Interesse an der Sicherung etwaiger gerichtlicher Kostenforderungen, beispielsweise aus § 192 Abs 1 SGG.
Tenor
I. Der Antrag des Antragstellers, ihm für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.
II. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 21.04.2022 wird zurückgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Im vorliegenden Eilverfahren - Beschwerdeverfahren - geht es um die Frage, ob der Antragsgegner (AG) im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten ist, dem Antragsteller (AST) ab 01.01.2022 vorläufig aufstockende Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung und im Alter nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu gewähren und weitere Kosten bezüglich eines Umzugs zu erstatten.
Der 1955 geborene AST bezieht seit Januar 2021 eine Altersrente in Höhe von 702,88 € monatlich und befand sich seit Mai 2017 beim AG im Bezug von aufstockenden Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII. Zuletzt wurden dem AST mit Bescheid vom 16.04.2021 auf dessen Weiterbewilligungsantrag hin für den Zeitraum von 01.05.2021 bis 30.04.2022 aufstockende Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII gewährt.
Bis Anfang Dezember 2021 bewohnte der AST eine Wohnung unter der Adresse R Straße in R. Am 03.12.2021 fand eine Zwangsräumung nach dem "Berliner Modell (= Austausch des Türschlosses)" statt. Seit diesem Zeitpunkt ist dem Senat keine Wohnanschrift des AST mehr bekannt.
Unter dem 14.12.2021 teilte der AST dem AG schriftlich und auch telefonisch mit, dass er nicht mehr in seiner Wohnung in R wohne, und stellte einen Antrag auf Übernahme einer Mietkaution, Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten. Der AG teilte daraufhin mit, dass zunächst ein konkretes Wohnungsangebot benötigt werde und ohne Wohnungsangebot keine Aussage über den Antrag getroffen werden könne. Der AST erläuterte, dass er eine Postfachadresse mitteilen werde, an das der AG die Entscheidung schicken könne. Es sei ihm von der Polizei geraten worden, seinen Aufenthaltsort bzw. Wohnort niemandem, auch nicht der Sozialverwaltung mitzuteilen. Die Mitarbeiterin des AG teilte ihm daraufhin mit, dass der AG dann nicht wisse, ob er im Landkreis wohnhaft sei und ob er noch zuständig sei. Mit weiterem Schreiben vom 14.12.2021 erläuterte der AST, dass er seit dem 03.12.2021 in einem Hotel bzw. einer Pension wohne. Unter dem 20.12.2021 bat der AST darum, dass ihm sämtliche Briefpost an das im Rubrum angegebene Postfach gesandt werde.
Mit Bescheid vom 23.12.2021 hob der AG den Bewilligungsbescheid vom 16.04.2021 über Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit ab dem 01.01.2022 auf. Zur Begründung führte er aus, dass der Ausgangsbescheid nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) aufgehoben werde. Denn nach Mitteilung des AST wohne dieser (seinerzeit) in einem Hotel bzw. in einer Pension. Die Kosten der Unterkunft und der Mehrbedarf für Warmwasseraufbereitung könnten daher nicht mehr im Rahmen der Bedarfsberechnung berücksichtigt werden. Das noch zur Verfügung stehende Einkommen in Form der monatlichen gesetzlichen Regelaltersrente übersteige nunmehr den nachgewiesenen Bedarf, so dass ab Januar 2022 keine aufs...