Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozesskostenhilfe. Hinreichende Aussicht auf Erfolg. Klagefrist. Zugangsfiktion. Substantiiertes Bestreiten der Fiktion. Eingangsstempel

 

Leitsatz (amtlich)

Zweifel im Sinne des § 37 Abs 2 S 3 SGB X sind gerechtfertigt, wenn der Adressat den Zugang ausdrücklich bestreitet oder einen späteren Zugang konkret behauptet.

 

Normenkette

SGB X § 37 Abs. 2 Sätze 1, 3; SGG § 73a Abs. 1 S. 1, § 87 Abs. 1 S. 1 Abs. 2; ZPO § 114 S. 1, § 418 Abs. 1

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 06.05.2010 aufgehoben.

II. Der Klägerin wird mit Wirkung ab 29.03.2010 für das Verfahren S 17 R 65/10 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt W. S., B-Stadt, beigeordnet.

 

Gründe

I.

Die Beschwerde richtet sich gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für ein Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Bayreuth.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin vom 30.06.2009 auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung mit Bescheid vom 07.08.2009 und Widerspruchsbescheid vom 09.12.2009 ab. Die medizinischen Voraussetzungen für eine Rentengewährung seien nicht erfüllt. Die Klägerin sei auf das gesamte Tätigkeitsfeld des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. In der Verwaltungsakte der Beklagtenakte befindet sich bei den sachleitenden Verfügungen zum Widerspruchsbescheid vom 09.12.2009 der Vermerk "abgesandt am 09.12.2009".

Der Bevollmächtigte der Klägerin hat am 26.01.2010 Klage zum SG erhoben und mit Schriftsatz vom 29.03.2010 für die Klägerin die Bewilligung von PKH und seine Beiordnung beantragt.

Auf den richterlichen Hinweis vom 01.04.2010, die Klagefrist dürfte versäumt sein, hat der Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 15.04.2010 ausgeführt, dass der Widerspruchsbescheid erst am 30.12.2009 bekannt gegeben worden sei. Auf das Anschreiben der Beklagten vom 09.12.2009 zum Widerspruchsbescheid werde verwiesen.

Mit Beschluss vom 06.05.2010 hat das SG den Antrag auf Bewilligung von PKH abgelehnt. Der Rechtsstreit habe keine Aussicht auf Erfolg. Die Klage sei unzulässig, da die Klagefrist versäumt sei. Der Widerspruchsbescheid sei am 09.12.2009 abgesandt worden. Nach der Zugangsfiktion des § 37 Abs 2 S 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gelte der Widerspruchsbescheid am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Mache der Empfänger eines einfachen Briefes dessen verspäteten Zugang geltend, erfordere dies die substantiierte Darlegung von Tatsachen, aus denen schlüssig die nicht entfernt liegende Möglichkeit eines späteren Zuganges hervorgehe. Vorliegend könne das bloße Bestreiten ohne Angabe weiterer Tatsachen die Zugangsfiktion nicht widerlegen.

Hiergegen hat der Bevollmächtige Beschwerde eingelegt und daran festgehalten, dass der Widerspruchsbescheid tatsächlich erst am 30.12.2009 zugegangen sei. Hierzu hat er auf den Eingangsstempel der Kanzlei ("eingegangen 30. Dez. 2009") auf dem Anschreiben der Beklagten zum Widerspruchsbescheid vom 09.12.2009 verwiesen. Die verspätete Auslieferung sei möglicherweise dadurch zu erklären, dass die Beklagte nicht die Deutsche Post AG sondern die nach seiner Kenntnis evtl. unzuverlässige Fa. F. beauftragt habe. Sollte die Deutsche Post AG beauftragt worden sein, liege ein "Ausreißer" vor. Auch bei der Deutschen Post AG komme es gelegentlich vor, dass aus nicht nachvollziehbaren Gründen die Postsendungen ungewöhnlich lange Laufzeiten aufweisen. Eventuell habe die Deutsche Post AG aufgrund des durch die Weihnachtszeit bedingten erhöhten Briefaufkommens Aushilfspersonal eingestellt, das nicht mit der sonst üblichen Sorgfalt gearbeitet habe.

Die Beklagte hat erwidert, dass die Beförderung der Post der Beklagten durch die Deutsche Post AG erfolge.

Der Senat hat das Original des dem Bevollmächtigten zugesandten Anschreibens vom 09.12.2009 eingesehen.

Ergänzend wird auf die beigezogene Akte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das SG hat zu Unrecht entschieden, das die Klägerin die Bewilligung von PKH mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Klage nicht beanspruchen kann.

Gemäß § 73a Abs 1 S 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 S 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn bei summarischer tatsächlicher und rechtlicher Prüfung eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit des Rechtsmittels besteht. Der Erfolg der von der Klägerin erhobenen Klage ist nicht deshalb unwahrscheinlich, weil die Klage wegen Versäumung der Monatsfrist des § 87 Abs 1 S 1 SGG als unzulässig anzusehen sein könnte.

Nach § 87 Abs 2, Abs 1 S 1 SGG ist in den Fällen, in denen wie hier e...

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