Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitssuchende: Übernahme von Mietschulden nebst Kosten für ein Mahnverfahren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes. Aufenthaltskarte als bloße Bescheinigung. Ermessensreduzierung auf Null. Abgrenzung zwischen Schulden und tatsächlichen Aufwendungen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Aufenthaltskarte nach § 5 FreizügG/EU ist eine bloße Bescheinigung mit deklaratorischer Bedeutung. Es handelt sich nicht um einen feststellenden Verwaltungsakt, sodass die Aufenthaltskarte kein Aufenthaltsrecht begründet.
2. Das Ermessen hinsichtlich der Gewährung vorläufiger Leistungen nach § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 SGB II wegen Anhängigkeit einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage vor dem Bundessozialgericht kann im Hinblick auf den existenzsichernden Charakter der Leistungen nach dem SGB II (Art. 1 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 1 GG) auf Null reduziert sein.
3. Soweit ein tatsächlich eingetretener und bisher vom SGB II-Leistungsträger noch nicht gedeckter Bedarf an Aufwendungen für Unterkunft und Heizung streitig ist, handelt es sich nicht um Schulden iSd § 22 Abs. 8 SGB II, sondern um tatsächliche Aufwendungen iSd § 22 Abs. 1 SGB II.
4. Zu den Bedarfen für Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II können auch Gebühren und Kosten für ein Mahnverfahren gegen den Leistungsberechtigten hinsichtlich der Mietrückstände gehören.
5. Bei fristloser Kündigung des Mietverhältnisses kann ein Anordnungsgrund wegen Nachholbedarfs für Leistungen für die Vergangenheit vor Stellung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz zu bejahen sein. Ein Abwarten der Räumungsklage ist dem Leistungsberechtigten nicht zumutbar.
Tenor
I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts München vom 02.11.2020 aufgehoben.
Der Beschwerdegegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Beschwerdeführerinnen vorläufig (weitere) Leistungen für Unterkunft und Heizung für Februar 2020 in Höhe von 650,16 Euro, für März 2020 in Höhe von 356,04 Euro, für Juli 2020 in Höhe von 38,- Euro, für August 2020 in Höhe von 278,90 Euro, für September 2020 in Höhe von 38,- Euro sowie für Oktober 2020 in Höhe von 160,44 Euro zu gewähren. Diese Leistungen sind direkt an die Vermieterin der Beschwerdeführerin zu 1 zu überweisen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Der Beschwerdegegner hat die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerinnen zu erstatten.
III. Der Beschwerdeführerin zu 1 wird für das Beschwerdeverfahren ab Eingang der Beschwerde Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt.
Gründe
I.
Streitgegenständlich ist im Beschwerdeverfahren die Übernahme von Miet- und Stromschulden der Antragstellerin und Beschwerdeführerin zu 1 (Bf zu 1) im Rahmen der Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Die 1979 geborene Bf zu 1 und ihre 2004 geborene Tochter, die Antragstellerin und Beschwerdeführerin zu 2 (Bf zu 2), sind georgische Staatsangehörige. Die Bf zu 1 ist Inhaberin eines Schwerbehindertenausweises, gültig ab 16.04.2018 bis Mai 2021 mit einem Grad der Behinderung von 50. Für die gemeinsam bewohnte Wohnung in der A-Straße in A-Stadt fällt seit 01.09.2019 ein monatlicher Mietzins von 650,16 Euro an (Grundmiete 476,16 Euro, Vorauszahlung für Betriebskosten 104,- Euro, Vorauszahlung für Heizkosten 70,- Euro), ab 01.12.2020 ein monatlicher Mietzins in Höhe von 659,16 Euro (Grundmiete 476,16 Euro, Vorauszahlung für Betriebskosten 104,- Euro, Vorauszahlung für Heizkosten 79,- Euro). Die Bf zu 1 erhält monatlich 204,- Euro Kindergeld für die Bf zu 2. Ein seit 20.04.2020 bestehendes Arbeitsverhältnis (geringfügige Beschäftigung) der Bf zu 2 mit der R. GmbH wurde zum 31.07.2020 gekündigt. Beide Beschwerdeführerinnen (Bf) üben derzeit nach eigenen Angaben keine Erwerbstätigkeit aus. Die Bf zu 2 absolvierte im Juli 2019 eine private griechische, staatlich genehmigte Volksschule (Teilhauptschule II) in A-Stadt. Laut Bestätigung der Schulzugehörigkeit besucht sie (nach Durchlaufen einer 9. Klasse an der Mittelschule am W.-Platz im Schuljahr 2019/2020) seit 08.09.2020 die Jahrgangsstufe 9 des E.-G.-Gymnasiums A-Stadt. Der Vater der Bf zu 2 ist georgischer Staatsangehöriger und war bis zum 30.08.2010 mit der Bf zu 1 verheiratet. Seit dem Jahr 2013 ist die Bf zu 1 mit dem griechischen Staatsangehörigen G. S. verheiratet, lebt von diesem aber nach eigenen Angaben getrennt.
Die Bf zu 1 war erstmals vom 26.05.2013 bis 01.10.2013 und danach wieder ab dem 10.07.2016 bis zum aktuellen Zeitpunkt in A-Stadt gemeldet. Die Bf zu 2 reiste am 12.09.2016 wieder nach Deutschland ein. Die Bf zu 1 gab am 28.09.2020 laut einer Gesprächsnotiz vom selben Tag gegenüber dem Antrags- und Beschwerdegegner (Bg) an, sie habe von 2013 bis 2015 in Deutschland gelebt und sei dann nach Griechenland zurückgegangen. Erst Mitte des Jahres 2016 sei sie wieder nach Deutschland gezogen. Nach Angaben des Kreisverwaltungsreferats (KVR) wurde der Bf zu 1 erstmalig am 10.10.2013 eine Aufenthaltskarte nach dem Freizügigkeitsgese...