Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Arbeitnehmerstatus eines Unionsbürgers bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit. zeitliche Grenzen der Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft
Leitsatz (amtlich)
Gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt der Arbeitnehmerstatus bei unfreiwilliger, durch die Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit unberührt. Hierbei sind verschiedene Tätigkeiten, die aneinander anschließen, zusammenzurechnen. Dies gilt auch für das Zusammenrechnen von einer abhängigen Beschäftigung und einer selbstständigen Tätigkeit.Die Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft unterliegt zeitlichen Grenzen. Sie wirkt längstens bis zu zwei Jahren nach Beendigung der Tätigkeit fort.
Normenkette
FreizügG/EU § 2 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1a, § 4a Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 5 Abs. 4 S. 1, § 11 Abs. 1 S. 11; SGB II § 7 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 1, § 9 Abs. 1; SGB XII § 18 Abs. 1, §§ 21, 23 Abs. 1 Sätze 1, 3, Abs. 3 S. 1; AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 5; SGG § 86b Abs. 2 Sätze 1, 4; ZPO § 920 Abs. 2
Tenor
I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts München vom 07.04.2016 abgeändert und der Beigeladene verpflichtet, der Beschwerdegegnerin vorläufig Leistungen nach dem SGB XII in Höhe von 1.039 € monatlich für die Zeit von April bis Juni 2016 zu erbringen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Der Beschwerdeführer trägt 1/10, der Beigeladene 9/10 der außergerichtlichen Kosten der Beschwerdegegnerin.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 22.03.2016 bis zum 30.06.2016 streitig.
Die 1986 geborene Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Bg) reiste im November 2011 in der Bundesrepublik Deutschland ein. In den Jahren 2012 und 2013 arbeitete sie sozialversicherungspflichtig mit einem Bruttolohn in Höhe von 7128 € im Jahr 2012 bzw. 7314 € im Jahr 2013. Ab Juli 2013 war sie zusätzlich selbstständig erwerbstätig im Bereich Schönheitsbehandlungen (Rasieren), Praxisreinigungen, Kinder- und Seniorenbetreuung, Gebäudereinigung, Haushälterin und Hausmeisterarbeiten (Gewerbeanmeldung vom 04.07.2013). Nach ihren Angaben hatte sie in der Zeit von September 2013 bis März 2014 einen Gewinn von 7207,30 € aus selbstständiger Arbeit erzielt (bei Betriebseinnahmen in Höhe von 9321,25 €). Für den Zeitraum von September 2012 bis Dezember 2013 war die Bg außerdem in einem Privathaushalt geringfügig beschäftigt. Sie verdiente dort zwischen 120 € und 300 € monatlich.
Seit Oktober 2013 ist die Bg an der europäischen Hochschule für Recht und Verwaltung in W. als Fernstudentin eingeschrieben.
Vermutlich Anfang des Jahres 2014 hatte sie einen privaten Unfall, der zu einer Knieverletzung führte. Seitdem könne sie ihren früheren Beruf nicht mehr ausüben und habe deshalb ihr Gewerbe zum 01.04.2014 abgemeldet.
Erstmals im August 2014 beantragte sie beim Antragsgegner und Beschwerdeführer (Bf) Leistungen nach dem SGB II unter Vorlage eines Mietvertrages. Die Kaltmiete belief sich ab dem 01.09.2014 auf 505 €. Der Bf bewilligte für die Zeit von August bis Januar 2016 durchgehend Leistungen nach dem SGB II, zuletzt mit Bescheid vom 30.07.2015 Leistungen in Höhe von monatlich 944 €, davon 545 € Kosten der Unterkunft und Heizung.
Am 27.01.2016 beantragte die Bg die Weitergewährung von Leistungen nach dem SGB II. Sie legte eine Bescheinigung des Vermieters vor, nach der sich die Gesamtmiete ab dem 01.01.2016 auf 635 € monatlich belaufe. Mit Bescheid vom 02.02.2016 lehnte der Bf den Antrag ab. Der Arbeitnehmerstatus sei mit Aufgabe der Selbstständigkeit zum 01.04.2014 ab diesem Zeitpunkt nach sechs Monaten, also dem 01.11.2014 entfallen. Gegen diesen Bescheid legte die Bevollmächtigte der Bg Widerspruch ein. Die Bg halte sich berechtigt in Deutschland auf und sei über Jahre selbstständig tätig. Sie habe ihre gewerbliche Tätigkeit aufgrund eines Unfalles nicht mehr ausüben können. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.04.2016 wurde der Widerspruch zurückgewiesen, da die Bg gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Zwar gelte der Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Selbstständige aufhalten. Die Bg übe jedoch seit März 2014 ihre geringfügige Tätigkeit nicht mehr aus und habe auch ihr Gewerbe abgemeldet. Sie könne sich daher nicht auf das sogenannte "Nachwirken der Erwerbstätigkeit" gemäß § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetz/EU berufen. Weder ihre selbstständige Tätigkeit, noch die geringfügige Tätigkeit würden eine Arbeitnehmereigenschaft im streitigen Zeitraum begründen. Gegen den Widerspruchsbescheid wurde nach den Angaben der Bevollmächtigten der Bg Klage erhoben.
Am 11.03.2016 beantragte die Bg erneut Leistungen nach dem SGB II b...