Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitssuche: Leistungsausschluss für EU-Ausländer. Fortbestand eines Aufenthaltsrechts bei unfreiwilliger Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit nach mehr als einem Jahr
Leitsatz (amtlich)
Der Status eines Selbständigen mit der Folge des Fortbestandes eines Aufenthaltsrechts bleibt bei EU-Bürger bestehen, wenn eine selbstständige Tätigkeit nach mehr als einem Jahr infolge von Umständen aufgegeben werden muss, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte (§ 2 Abs 3 Nr 2 FreizügG/EU).Eine zeitliche Befristung der Fortwirkung ergibt sich nicht.
Normenkette
FreizügG/EU §§ 1, 2 Abs. 1, 2 Nrn. 1-2, Abs. 3 S. 1 Nr. 2, S. 2, § 4a Abs. 1, 2 S. 1 Nr. 2; SGB II § 7 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 2, § 19 Abs. 1 S. 1, § 41a Abs. 1; AufenthG/EWG § 6a Abs. 7 Nr. 2, Abs. 9 S. 1, Abs. 10; VO (EU) Nr. 492/2011 Art. 10; VO (EU) Nr. 2016/589; EWGV 1612/68; RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3, Art. 37; RL 68/360 Art. 7 Abs. 1-2; Richtlinie 75/34/EWG des Rates; SGG § 54 Abs. 4, § 96 Abs. 1, § 193
Tenor
I. Die Berufung des Beklagten gegen Ziffer I. des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.08.2018 wird zurückgewiesen.
II. Mit Ausnahme des Berufungsverfahrens haben der Beklagte und die Beigeladene unter Abänderung von Ziffer II. des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.08.2018 die außergerichtlichen Kosten des Klägers je zur Hälfte zu erstatten. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren hat der Beklagte zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit von Dezember 2017 bis Juni 2018.
Der 1959 geborene Kläger ist kroatischer Staatsangehöriger. Im März 2014 reiste er zur Arbeitssuche in die Bundesrepublik Deutschland ein und meldete sich am 14.03.2014 beim Einwohnermeldeamt in A-Stadt an. Nach der Anmeldung seines Gewerbes am 22.04.2014 übte er eine selbständige Tätigkeit als Fliesen-Platten-Mosaikleger, Bodenleger, Betonstein- und Terrazzohersteller aus. Infolge einer Knieverletzung war er ab 26.05.2015 arbeitsunfähig. Sein Gewerbe meldete er am 06.08.2015 zum 30.06.2015 ab. Am 23.07.2015 erlitt er infolge eines Unfalls eine Schulterdistorsion links (Schulterläsion). Die Schulter wurde am 24.09.2015 operiert. In der Folgezeit erlitt er einen Herzinfarkt und befand sich vom 27.05.2016 bis 10.06.2016 auf einer Reha. Nach dem Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales (ZBFS) vom 19.07.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2018 besteht bei ihm ein Grad der Behinderung von 40. Es liege eine dauernden Einbuße seiner körperlichen Beweglichkeit vor sowie eine seelische Störung, eine Funktionsbehinderung des Schultergelenks beidseits, Durchblutungsstörungen des Herzens, ein abgelaufener Herzinfarkt, eine Coronardilatation, eine Stentimplantation, eine Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, eine Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, eine Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits, eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Osteoporose und eine Wirbelsäulenverformung. Nach einem Attest des Klinikums A-Stadt vom 06.12.2017 befinde er sich wegen einer schweren Depression in ambulanter psychiatrischer Behandlung und sei bis auf weiteres arbeitsunfähig.
Der Beklagte bewilligte dem Kläger von Juni 2015 bis November 2017 Alg II (zuletzt Bescheid vom 26.10.2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 26.11.2016). Den Weiterbewilligungsantrag vom 17.10.2017 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 15.11.2017 ab. Die Selbständigkeit sei zum 30.06.2015 aufgegeben worden und der für einen Leistungsanspruch notwendige Arbeitnehmerstatus wirke nur für zwei Jahre nach Beginn der unverschuldeten Arbeitslosigkeit nach. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Nach einem Vermerk des Beklagten vom 08.12.2017 habe der Kläger die selbständige Tätigkeit nach mehr als einem Jahr unfreiwillig aufgegeben. Laut Arbeitsvermittlung liege Erwerbsfähigkeit vor. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.01.2018 zurückgewiesen. Nach Erlass eines Beschlusses des Sozialgerichts Nürnberg (SG) vom 28.02.2018 im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes (S 13 AS 29/18 ER) bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 17.04.2018 "nach § 41a Abs 1 SGB II" vorläufig Alg II für die Zeit vom 12.01.2018 bis 30.06.2018. Unter Umsetzung des Beschlusses werde Alg II vorläufig, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache gewährt. Auf einen vom Kläger im Juni 2018 gestellten Weiterbewilligungsantrag bewilligte der Beklagte vorläufig Leistungen für die Monate Juli 2018 bis Dezember 2018 (Bescheid vom 06.07.2018 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 12.12.2018).
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 17.01.2018 hat der Kläger beim SG Klage erhoben. Es gebe keine zeitliche Einschränkung des privilegierten Freizügigkeitsrechts beim unfreiwilligen Verlus...