Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Fortwirkung des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts als Arbeitnehmer bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Beschäftigung von mehr als einem Jahr. sechswöchige Unterbrechung. keine zeitliche Höchstgrenze der Fortwirkung des Aufenthaltsrechts

 

Leitsatz (amtlich)

1. Auf einen Unionsbürger, der mehr als ein Jahr versicherungspflichtig beschäftigt war, ist die Regelung des § 2 Abs 3 S 1 Nr 2 FreizügG/EU (juris: FreizügigG/EU 2004) über einen fortwirkenden Arbeitnehmerstatus anzuwenden. Er verfügt damit über ein grundsätzlich unbegrenztes fortwirkendes Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht und der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II findet keine Anwendung.

2. Die Fortgeltung der Erwerbstätigeneigenschaft nach § 2 Abs 3 S 1 Nr 2 FreizügG/EU unterliegt keiner festen zeitlichen Höchstgrenze. Die Begrenzung der Rechtsstellung verlagert sich auf die materiellen Anforderungen, die zum Erhalt der Erwerbstätigeneigenschaft zu erfüllen sind. Ein Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer vorübergehend aufgegeben hat, kann die Erwerbstätigeneigenschaft nach Art 7 Abs 3 der Richtlinie 2004/38/EG (juris: EGRL 38/2004) und das damit verbundene Aufenthaltsrecht nach Art 7 Abs 1 dieser Richtlinie nur behalten, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hierfür zur Verfügung steht.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 14.05.2021 aufgehoben.

II. Der Antragsgegner wird, ab 05.05.2021 (Eingang des einstweiligen Rechtsschutzantrages beim Sozialgericht Dresden) bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über die Klage der Antragstellerin gegen den Ablehnungsbescheid vom 01.04.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2021 - längstens jedoch bis zum 31.03.2022, im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, an die Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II) wie folgt zu zahlen:

1. für den Zeitraum vom 05.05.2021 bis 31.05.2021 in Höhe von 662,89 Euro sowie

2. für den Zeitraum ab 01.06.2021 jeweils in Höhe von 796,47 Euro monatlich.

III. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin deren notwendige außergerichtliche Kosten in beiden Instanzen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens in Gänze zu erstatten.

IV. Eine (weitere) Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die 1965 geborene, ledige, nicht unterhaltspflichtige, erwerbsfähige und derzeit beschäftigungslose Antragstellerin ist slowakische Staatsangehörige. Sie reiste im September 2017 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und war wie folgt versicherungspflichtig beschäftigt:

- vom 04.12.2017 bis 31.01.2018 als Helferin bei der Z.... GmbH in Y....,

- vom 19.03.2018 bis 14.09.2018 als Produktionsmitarbeiterin bei der X.... GmbH in W....,

- vom 05.11.2018 bis 20.09.2019 als Hauswirtschafterin bei der Ambulanter Pflegedienst V.... GmbH in A.....

Anschließend bezog sie Arbeitslosengeld (I). Mit Bescheinigung vom 03.12.2019 bestätigte ihr die Agentur für Arbeit C...., dass bei ihr im Hinblick auf die am 20.09.2019 beendete Beschäftigung unfreiwillige Arbeitslosigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) eingetreten ist. Im Zeitraum vom 01.11.2019 bis 31.03.2021 bezog sie (teils ergänzend, teils nach erfolgreichen Widersprüchen) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II vom Antragsgegner. Sie bewohnt seit 01.05.2020 eine 44,03 m² große Zweiraumwohnung in A...., für die sie eine monatliche Bruttowarmmiete in Höhe von 350,47 Euro zu entrichten hat. Die Antragstellerin war - während des Leistungsbezugs beim Antragsgegner - zudem wie folgt geringfügig beschäftigt:

- vom 01.09.2020 bis 31.10.2020 als Zimmermädchen in der Gaststätte S.... in A.... für 10,5 Stunden wöchentlich mit einem Verdienst von 450,00 Euro monatlich,

- vom 01.11.2020 bis 31.03.2021 als Zimmermädchen in der Gaststätte S.... in A.... für 2,5 Stunden wöchentlich mit einem Verdienst von 95,00 Euro monatlich.

Den von der Antragstellerin am 27.02.2021 für den Zeitraum ab 01.04.2021 gestellten Weiterzahlungsantrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 01.04.2021 mit der Begründung ab, die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, weil sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitssuche habe und daher von Leistungen ausgeschlossen sei. Den hiergegen von der Antragstellerin am 15.04.2021 erhobenen Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsb...

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