Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Rechtsanwaltsvergütung. beigeordneter Rechtsanwalt. Verfahrensgebühr. Anrechnung der Geschäftsgebühr für das Vorverfahren nach Vorbem 3 Abs 4 RVG-VV. Vergütungslücke bei quotierter Kostenerstattung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Anrechnung der Geschäftsgebühr Nr 2300 VV RVG (juris: RVG-VV) auf die Verfahrensgebühr gemäß Vorbemerkung 3 Abs 4 VV RVG kommt auch unter dem Rechtsgedanken des § 58 Abs 2 RVG im Verhältnis zur Staatskasse nur dann und insoweit in Betracht, wenn ansonsten der Rechtsanwalt mehr als seine vollen Regelanwaltsgebühren erhalten würde (Beschluss des Senats vom 24.2.2021 - L 12 SF 161/20; LSG Darmstadt vom 17.6.2019 - L 2 AS 241/18 B = AGS 2019, 343; OLG Frankfurt vom 17.10.2012 - 14 W 88/12 = NJW-RR 2013, 319 mwN; Müller-Rabe in: Gerold/Schmidt, Kommentar RVG, 24. Auflage 2019, § 58 RdNr 33 ff).

2. Für die Staatskasse tritt daher bei regelgerechter Anrechnung gemäß § 58 Abs 2 RVG das gleiche Gesamtergebnis ein, welches der Auftraggeber über § 15a Abs 1 RVG erreicht.

3. Bei quotierter Kostenerstattung durch den Beklagten verbleibt dem Rechtsanwalt darüber hinaus denknotwendig hinsichtlich der Geschäftsgebühr eine "Vergütungslücke", die er nur seinem Mandanten gegenüber geltend machen kann. Denn die Geschäftsgebühr schuldet die Beklagte nur in Höhe der Quote, während gleichzeitig ein Anspruch auf Erstattung der Geschäftsgebühr gegenüber der Staatskasse nicht besteht. Dieser gegenüber kann der Rechtsanwalt nur die Kosten für das Klageverfahren abrechnen (vgl hierzu auch Grundsatzbeschluss des Senats vom 24.2.2021 - L 12 SF 161/20).

 

Normenkette

RVG § 3 Abs. 1 S. 1, § 14 Abs. 1, § 15 Abs. 1, § 33 Abs. 8 Sätze 1, 3, § 45 Abs. 1, §§ 50, 56 Abs. 1, 2 S. 1, § 58 Abs. 2; VV RVG Vorb. 3 Abs. 4; VV RVG Nrn. 1008, 2300-2302, 3102, 7002

 

Tenor

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16.12.2021, S 28 SF 63/21 E, wird zurückgewiesen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Höhe der aus der Staatskasse zu erstattenden Rechtsanwaltsvergütung für ein Verfahren vor dem Sozialgericht München. Streitig ist, ob und in welcher Höhe eine Anrechnung nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG zu erfolgen hat.

Die Erinnerungsführerin und Beschwerdegegnerin (Bg) erhob für die Klägerinnen zu 1) und 2), eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II, am 11.09.2018 zwei Klagen, zum einen wegen der Erstattung von Leistungen (Az. S 2 AS 2199/18) zum anderen wegen der Bewilligung höherer ALG 2-Leistungen (Az. S 2 AS 2200/18) jeweils für die Monate November und Dezember 2017. Moniert wurde eine fehlerhafte Berechnung.

Im Verfahren Az. S 2 AS 2200/18 beantragte die Bg die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter ihrer Beiordnung. Im Verfahren Az. S 2 AS 2199/18 stellte sie keinen Antrag. Mit Beschluss vom 28.11.2018 bewilligte das Sozialgericht den Klägerinnen im Verfahren Az. S 2 AS 2200/18 PKH ab Antragstellung und ordnete die Bg bei.

In der mündlichen Verhandlung am 25.07.2020 (Dauer: 10.31 Uhr bis 11.09 Uhr) hat das Sozialgericht die beiden Verfahren S 2 AS 2199/18 und S 2 AS 2200/18 durch Beschluss zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem führenden Az. S 2 AS 2200/18 verbunden. Sodann schlossen die Beteiligten einen verfahrensbeendenden Vergleich, in dem sich der Beklagte verpflichtete, den Klägerinnen 1/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Der Beklagte erstattete daraufhin den Klägerinnen entsprechend des Kostenfestsetzungsantrags der Bg 130,50 Euro brutto. Diese Kosten berechneten sich aus 1/10 eines Betrages, der sich u.a. aus der (gem. Nr. 1008 VV RVG erhöhten) Geschäftsgebühr i.H.v. 390,00 Euro und der Verfahrensgebühr i.H.v. 390,00 Euro zusammensetzte, abzüglich der "Anrechnung der halben Verfahrensgebühr 3102 VV RVG" auf die Geschäftsgebühr in Höhe von 19,50 Euro.

Mit Vergütungsfestsetzungsantrag vom 13.10.2020 beantragte die Bg, die vom Erinnerungsgegner und Beschwerdeführer (Bf) zu erstattenden Kosten im Verfahren S 2 AS 2200/18 auf 950,04 Euro festzusetzen wie folgt:

Nr. 3102, 1008VV RVG

351,00 Euro (= 9/10 aus 390,- Euro)

Nr. 3106 VV RVG

180,00 Euro (= 9/10 aus 200,- Euro)

Nr. 1006 VV RVG

270,00 Euro (= 9/10 aus 300,- Euro)

Nr. 7002 VV RVG

 18,00 Euro (= 9/10 aus 20,- Euro)

Zwischensumme

819,00 Euro

Nr. 7008 VV RVG

131,04 Euro

Gesamt

950,04 Euro

Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle wies die Bg mit Schreiben vom 07.12.2020 darauf hin, dass sie vom Beklagten gemäß der Quotelung eine Geschäftsgebühr i.H.v. 39,00 Euro erhalten habe, die in hälftiger Höhe auf die Verfahrensgebühr anzurechnen sei.

Nachdem die Bg an ihrer Gebührenbestimmung ohne Anrechnung festhielt, setzt die zuständige Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die Vergütung mit Vergütungsfestsetzungsbeschluss vom 26.01.2021 auf 929,68 Euro fest:

Nr. 3102 VV RVG

300,00 Euro

Nr. 1008 VV RVG

 90,00 Euro

Anrechnung gem. Vorb. 3 Abs. 4 RVG

 -19,50 Euro

Nr. 3106 VV RVG

200,00 Euro

Nr. 1006 VV RVG

300,00 Euro

Nr. 7002 VV RVG

 20,00 Euro

Zwischensumme

890,50 Eur...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?