Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. hausarztzentrierte Versorgung. Zulässigkeit der Kündigung des Hausärztevertrages durch die AOK Bayern
Orientierungssatz
Bei Dauerschuldverhältnissen aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Vertrages beurteilt sich die Rechtmäßigkeit einer Kündigung aus wichtigem Grund nach § 314 BGB, der über die Verweisungsvorschrift des § 61 S 2 SGB 10 entsprechend gilt. Nach § 314 Abs 1 BGB kann ein Dauerschuldverhältnis ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung nicht zugemutet werden kann. Da eine Kündigung ultima ratio ist, sieht § 314 Abs 2 BGB bei Verletzungen vertraglicher Pflichten grundsätzlich vor, dass zunächst eine Frist zur Abhilfe gesetzt werden beziehungsweise eine Abmahnung erfolgen muss, es sei denn, dass besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Kündigung rechtfertigen (§§ 314 Abs 2 S 2, 323 Abs 2 Nr 3 BGB). Eine Fristsetzung oder Abmahnung ist also dann nicht erforderlich, wenn das Vertrauensverhältnis so schwerwiegend gestört ist, dass eine sofortige Beendigung des Vertrages gerechtfertigt erscheint (hier bejaht für die Kündigung des Hausärztevertrages durch die AOK Bayern aufgrund eines gravierenden vertragswidrigen Verhaltens des Bayerischen Hausärzteverbandes eV beim Betreiben des Systemausstiegs mit dem Ziel, eine hausärztliche Versorgung durch nicht zugelassene Ärzte zu etablieren).
Tenor
I. Die Beschwerden des Antragstellers und der Beigeladenen gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 21.01.2011 werden zurückgewiesen.
II. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Beschwerdeführer.
Gründe
I.
Die Beschwerdeführer, der Antragsteller und die Beigeladene, wenden sich gegen den Beschluss des Sozialgerichts München (SG) vom 21.01.2011, mit dem der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Fortführung des Hausarztvertrages abgelehnt wurde.
1.
Der Antragsteller (BHÄV) ist ein als eingetragener Verein organisierter Berufsverband der Hausärzte in Bayern und vertritt nach eigenen Angaben etwa 80 % der im Freistaat tätigen Hausärzte.
Die Beigeladene (HÄVG) ist eine genossenschaftlich organisierte Vertragsgemeinschaft mit Sitz in D-Stadt, die 2003 gegründet wurde. Sie steht Hausärzten, die Mitglied im Deutschen Hausärzteverband sind, Gemeinschaftspraxen und anderen Personen und Gesellschaften, deren Mitgliedschaft im Interesse der Genossenschaft liegt, offen (§ 3 der Satzung). Ihre satzungsmäßige Aufgabe ist insbesondere der Abschluss von (Rahmen-) Verträgen mit Kostenträgern im Gesundheitswesen über Art und Inhalt der Leistungserbringung und die Vergütung, ferner die Erbringung verschiedener Service- und Dienstleistungen (§ 2 der Satzung).
Am 12.02.2009 schloss die Antragsgegnerin mit der Beigeladenen einen Vertrag zur Durchführung einer hausarztzentrierten Versorgung gem. § 73b SGB V "in Kooperation mit und ermächtigt durch" den Antragsteller. Da der erkennende Senat im Beschluss vom 03.07.2009 (L 12 KA 33/09 B ER, Breithaupt 2009, 763; Hinweis: In Juris irrtümlich Entwurfsfassung vom 27.06.2009 veröffentlicht) ausführte, die Kompetenz zum Abschluss eines Selektivvertrages nach § 73b Abs. 4 Satz 1 SGB V könne nicht auf einen Dritten delegiert werden (Orientierungssatz 2), so dass kein wirksamer Vertrag vorliege, schlossen die Antragsgegnerin und der Antragsteller sowie die Beigeladene am 03.09.2009 eine "1. Änderungsvereinbarung zum Vertrag zur Durchführung einer hausarztzentrierten Versorgung gem. § 73b SGB V vom 12.02.2009". Nach Nr. 2 der Präambel wollten die Vertragspartner "die Vertragspflichten des HzV-Vertrages zwischen BHÄV und HÄVG entsprechend umverteilen. Damit soll erreicht werden, dass der BHÄV sämtliche tragenden Funktionen des bestehenden HzV-Vertrages übernimmt und die HÄGV den BHÄV und die AOK bei der technischen und administrativen Umsetzung des Vertrages umfassend unterstützt". § 1 der Vereinbarung lautet:
"(1) Die Vertragspartner sind sich einig, dass der BHÄV als Vertragspartner der AOK die Durchführung der hausarztzentrierten Versorgung nach Maßgabe des HzV-Vertrages übernimmt und gegenüber der AOK und den teilnehmenden Ärzte die Abrechnung vornimmt. Die AOK schuldet dem BHÄV hierfür die im HzV-Vertrag vereinbarte Vergütung.
(2) Die Vertragspartner sind sich weiter einig, dass die Erfüllung bestimmter vertraglicher Aufgaben von der HÄGV als Dienstleistungsgesellschaft übernommen wird. Durch die Einbindung der HÄGV in den HzV-Vertrag wird die Verantwortung des BHÄV für die Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten nicht berührt. Der BHÄV steht im Verhältnis zur AOK auch für die Abwicklung seiner vertraglichen Pflichten durch die HÄGV ein.
(3) Die HÄGV kann als Erfüllungsgehilfe mit Zustimmung der AOK durch den BHÄV zur Abgabe und zum Empfang von Willenserklärungen und zur V...