Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. keine uneingeschränkte Anwendbarkeit auf Unionsbürger. Europarechtskonformität. Verfassungsmäßigkeit. Beschäftigungsaufnahme. Genehmigung durch BA gem § 284 SGB 3
Leitsatz (amtlich)
Gegen den zeitlich unbegrenzten und vollständigen Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 bestehen nicht nur Bedenken in gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf das vom Bundesverfassungsgericht aus Art 1 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG abgeleitete Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
Orientierungssatz
Ein polnischer Staatsangehöriger kann sich bis zum 30.4.2011 bei der Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland nicht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit gem Art 45 AEUV berufen, sondern er bedarf hierfür gem § 284 SGB 3 einer Arbeitsgenehmigung durch die Bundesagentur für Arbeit.
Tenor
I. Der Beschluss des Sozialgerichts München vom 20.09.2010 wird unter Ziffern I und II aufgehoben und die Beschwerdegegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Beschwerdeführerin Arbeitslosengeld II in Höhe von
165 € Regelleistung und 171 € Kosten für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 09.08. bis zum 31.08.2010 und
monatlich 225 € Regelleistung und 233 € Kosten für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 01.09.2010 bis zum 31.01.2011
vorläufig zu zahlen.
II. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
III. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu zwei Dritteln zu erstatten.
IV. Der Beschwerdeführerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Dr. P. beigeordnet.
Gründe
I.
Zwischen den Parteien ist streitig der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.
Die 1977 geborene Beschwerdeführerin (Bf.) ist polnische Staatsangehörige und lebte bis zum 28.03.2010 in Polen. Sie leidet an paranoider Schizophrenie und war in Polen insgesamt sechsmal nach polizeilicher Zwangseinweisung stationär in psychiatrischen Kliniken untergebracht. Eine ambulante psychiatrische Behandlung fand in Polen nicht statt, weil die Bf. eine solche wegen fehlender Krankheitseinsicht ablehnte. Wenn sie nicht stationär untergebracht war, verweigerte sie die Einnahme der ihr verordneten Psychopharmaka aufgrund der damit verbundenen Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Händezittern. Aufgrund der psychischen Krankheit wurde sie arbeitslos und geriet in wirtschaftliche Not bei einem Sozialhilfesatz von max. 320 Zloty (ca. 80 EUR) im Monat. In Polen war sie zuletzt über ihren Sozialhilfeträger beim Nationalen Gesundheitsfonds krankenversichert.
Nachdem die Bf. von Januar bis Ende März 2010 ca. 6 Wochen in Polen in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen war, beschloss ihre Mutter, die Zeugin C., sie zu sich nach Deutschland zu holen, um die Einnahme der Medikamente durch ihre Tochter zu überwachen. Die Bf. ist ihre Tochter aus erster Ehe. Die Mutter war in zweiter Ehe in Deutschland verheiratet, ist auch vom zweiten Mann geschieden und bezieht zusammen mit ihrem minderjährigen Kind aus zweiter Ehe Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Bf. wohnt in der Wohnung ihrer Mutter und Halbschwester.
Nach einer Bescheinigung der Ausländerbehörde vom 13.04.2010 ist die Bf. nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist dahingehend beschränkt, dass die Aufnahme einer Beschäftigung nur nach Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 Abs. 1 SGB III gestattet ist.
Am 12.04.2010 beantragte die Mutter für die Bf. bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse, der Beigeladenen zu 2, die betragsfreie Mitversicherung im Wege der Familienversicherung. Diesen Antrag lehnte die Beigeladene zu 2 am 01.06.2010 ab.
Am 19.04.2010 beantragte die Bf. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bei der Beschwerdegegnerin (Bg.). Diesen Antrag lehnte die Bg. mit Bescheid vom 31.05.2010 ab. Dagegen legte am 01.07.2010 die Mutter der Bf. in deren Namen Widerspruch ein.
Mit Schreiben vom 28.07.2010, eingegangen bei der Bg. am 30.07.2010, forderte der Prozessbevollmächtigte der Bf. die Bg. auf, dem Widerspruch der Bf. unverzüglich abzuhelfen sowie den Fall an den Sozialhilfeträger weiterzuleiten, da nicht auszuschließen sei, dass die Bf. aufgrund ihrer paranoiden Schizophrenie leistungsberechtigt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) sei und dringend ärztlicher Behandlung bedürfe.
Nachdem die Bg. mit Schreiben vom 02.08.2010 eine Abhilfe bezüglich des Widerspruchs abgelehnt hatte, hat die Bf. am 09.08.2010 beim Sozialgericht München (SG) den Erlass einer ei...