Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. fehlende aufschiebende Wirkung. Sofortvollzug. kein Regel-Ausnahmeverhältnis. Interessenabwägung. verfassungsrechtlich gebotene Ausgestaltung. Wegfall des Arbeitslosengeldes II. wiederholte Pflichtverletzung. Angebot von Sachleistungen. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das vom Gesetzgeber in § 39 SGB 2, § 86a Abs 2 Nr 4 SGG angeordnete vordringliche Vollzugsinteresse hat für das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor allem die Bedeutung, dass die Antragsgegnerin von der ihr in einem Fall des § 86a Abs 2 Nr 5 SGG obliegenden Pflicht entbunden wird, das öffentliche Interesse der sofortigen Vollziehbarkeit gesondert zu begründen.

2. In den Fällen des § 86a Abs 2 Nrn 2 bis 4 SGG ist dem Gesetz kein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Suspensiveffektes zu entnehmen.

3. Das Gesetz hält - wie § 86b Abs 1 S 1 SGG zeigt - den Sofortvollzug keineswegs als stets geboten, es verlagert lediglich die erforderliche konkrete Interessenbewertung in das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und macht dies von einem Antrag des Antragstellers abhängig.

4. Auch in Anfechtungssachen ist eine im jeweiligen Einzelfall effektiven Rechtsschutz gewährleistende Abwägung im Rahmen einer offenen Eilentscheidung unter Beachtung und richtiger Gewichtung der Abwägungsbelange, die sich aus der verfassungsrechtlich gebotenen Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben.

5. Eine richtige Gewichtung der aus der verfassungsrechtlich gebotenen Ausgestaltung des Eilverfahrens abgeleiteten Abwägungsbelangen (vgl BVerfG vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 = Breith 2005, 803; BVerfG vom 6.2.2007 - 1 BvR 3101/06) erfordert eine eingehende Auseinandersetzung mit der Gewährleistung des Existenzminimums.

6. Eine Absenkung der Regelleistungen der Grundsicherung auf 90 % auch nur auf einen kurzen Zeitraum ist ein gravierender Einschnitt in das wirtschaftliche Leistungsvermögen, dessen Sofortvollzug nur bei einer mit keinen Zweifeln belasteten rechtmäßigen Verwaltungsentscheidung gebilligt werden kann.

 

Tenor

I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 12. November 2009 wird zurückgewiesen.

II. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Beschwerdeverfahren darüber, ob das SG zu Recht die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen die Absenkungsentscheidungen der Antragsgegnerin vom 22.09. 2009 und vom 12.10.2009 sowie die Aufhebung deren Vollziehung angeordnet hat. Mit diesen Regelungen nahm die Antragsgegnerin die Absenkung des Arbeitslosengeldes II in der Zeit von Oktober 2009 bis Januar 2010 um 60 % der Regelleistung beziehungsweise um 40 % der Regelleistung im Januar 2010 vor.

Die Antragstellerin bezieht seit Oktober 2005 von der Antragsgegnerin Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Aufwendungen für die Unterkunft entstehen der Antragstellerin ≪aktuell≫ nicht). Die Antragstellerin kam keinerlei Meldeaufforderungen der Antragsgegnerin nach. Wegen der weiteren Einzelheiten zu den Absenkungsbescheiden wird auf die Darstellung im Sachverhalt des angegriffenen Beschlusses verwiesen.

Mit Beschluss 12. November 2009 hat das SG die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen die Absenkungsentscheidungen der Antragsgegnerin vom 22.09. 2009 und vom 12.10.2009 sowie die Aufhebung deren Vollziehung angeordnet. Das SG sah wegen des Sofortvollzugs nach § 39 Nr. 1 SGB II den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG als statthaften Rechtsbehelf an. In diesen Fällen sei die Grundlage der gerichtlichen Entscheidung eine Abwägung der Interessen, insbesondere des öffentlichen Interesses am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts mit dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung. Würden bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen Bescheids bestehen und sei daher von erheblichen Erfolgsaussichten des Antragstellers im Hauptsacheverfahren auszugehen, überwiege regelmäßig das Aussetzungsinteresse, denn an der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts könne schlechthin kein öffentliches Interesse bestehen. Von einem überwiegenden öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Vollziehung sei hingegen auszugehen, wenn der Hauptsacherechtsbehelf keine Aussicht auf Erfolg habe, weil der Verwaltungsakt rechtmäßig und seine Vollziehung eilbedürftig sei. Es würden ernstliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit der Absenkungsbescheide vom 22.09.2009 und vom 12.10.2009 bestehen. Rechtmäßig sei nur der Absenkungsbescheid, der die vom Gesetz vorgeordnete Absenkung des Arbeitslosengeldes II feststelle. Damit sei die Feststellung einer Absenkung in Höhe von 10 % der Regelleistung rechtswidrig, wenn tatsächlich eine wiederholte Meldepflichtverletzung im Sinn von § 31 Abs. 2 S. 3 SGB II vorliege. Dem Meldepflichtverstoß am 22.06.2009 ...

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