Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe: Bewilligung von Leistungen für einen ausreisepflichtigen EU-Ausländer durch einstweiligen Rechtsschutz. Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Frage des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII in der Fassung vom 22.12.2016, gültig ab 29.12.2016, im Rahmen eines einstweiligen Rechtschutzverfahrens: keine Auslegung der Vorschrift entgegen dem Wortlaut aus verfassungsrechtlichen Erwägungen.
2. Zu den Anforderungen an die Glaubhaftigkeit des Aufenthaltsrechts bei durch das Kreisverwaltungsreferat erfolgter Feststellung des Verlusts desselben.
3. Zur Überbrückungsleistung nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII in der Fassung vom 22.12.2016, gültig ab 29.12.2016, als Aliud zum originär gestellten Leistungsantrag.
4. Zur Härtefallregelung nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII in der Fassung vom 22.12.2016, gültig ab 29.12.2016, als Annex zur Überbrückungsleistung.
Orientierungssatz
1. Bei wirksamer Feststellung der Ausreisepflicht durch das Kreisverwaltungsreferat ist jedenfalls im Eilverfahren ein Aufenthaltsrecht nicht glaubhaft.
2. Der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist verfassungsgemäß, insbesondere verletzt er nicht das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER).
Tenor
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 8. März 2017 in den Ziffern I und II wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt B., B-Straße, A-Stadt, beigeordnet.
Gründe
I.
Der Antragsteller und Beschwerdeführer begehrt im Wege des Beschwerdeverfahrens die Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Der 1985 geborene Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) ist lettischer Staatsangehöriger. Im Jahr 2010 erlitt er in seinem Heimatland einen Motorradunfall. Infolgedessen ist der Antragsteller schwerbehindert (Grad der Behinderung 80, Merkzeichen G und B). Seitdem war er nicht mehr berufstätig. In Lettland wurde er zunächst von seiner Großmutter gepflegt. Nachdem die Pflege nicht mehr durchführbar war, holte ihn seine Mutter im Jahr 2014 nach Deutschland. Der Antragsteller wohnte zunächst in einem möblierten Zimmer und wurde von seiner Mutter versorgt. Seine Mutter bezahlte auch die Miete für dieses Zimmer in Höhe von 250,00 Euro. Nach Abriss des Wohnhauses wurde der Antragsteller ab April 2016 in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung in T-Stadt untergebracht. Ende September 2016 wurde dem Antragsteller mangels Kostenzusage und wegen bestehender offener Forderungen fristlos gekündigt. Anschließend kam er in A-Stadt in der städtischen Obdachlosenunterkunft in der A-Straße unter. Dort wohnte er bis 31.03.2017. Aktuell hält sich der Antragsteller nach Angabe des Prozessbevollmächtigten in einer anderen Obdachlosenunterkunft auf.
Bereits mit Bescheid vom 26.04.2016 stellte das Kreisverwaltungsreferat der Landeshauptstadt A-Stadt den Verlust des Aufenthaltsrechts des Antragstellers fest und forderte ihn zur Ausreise auf. Gegen diesen Bescheid ist ein Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht A-Stadt anhängig.
Mit Bescheid vom 18.05.2016 bewilligte das beigeladene Jobcenter dem Antragssteller vorläufig Leistungen für die Zeit vom 17.03.2016 bis zum 30.06.2016, nachdem es hierzu vom Sozialgericht München (SG) im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, Az. S 50 AS 647/16 ER, verpflichtet worden war. Bereits am 10.06.2016 wurde beim Beigeladenen ein Weiterbewilligungsantrag auf Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gestellt, der am 14.12.2016 abgelehnt wurde. Im Klageverfahren wurde der Beigeladene verurteilt dem Antragsteller Leistungen nach dem SGB II für die Zeit Juni 2015 bis Januar 2016 zu zahlen (Gerichtsbescheid des SG vom 30. Januar 2017, Az. S 19 AS 1766/16).
Am 08.03.2016 beantragte der Antragsteller erstmals Leistungen nach dem 3. Kapitel SGB XII bei der Antragsgegnerin. Aufgrund des hierzu erhobenen Eilantrags verpflichtete das SG mit Beschluss vom 18. Oktober 2016 die Antragsgegnerin, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit vom 29.09.2016 bis 31.01.2017 Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII im gesetzlichen Umfang zu gewähren (Az. S 19 AS 2359/16 ER).
Mit Bescheid vom 15.12.2016 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag vom 08.03.2016 unter anderem mit der Begründung ab, dass das beigeladene Jobcenter für den Antragsteller zuständig sei. Über den dagegen erhobenen Widerspruch wurde bisher nicht entschieden.
Mit E-Mail vom 15.01.2017 beantragte der Betreuer des Antragstellers bei der Antragsgegnerin über den 31.01.2017 hinaus die Weiterbewilligung von Leistungen der Hilfe zum...