Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung: Beitragszuschlag für Kinderlose
Leitsatz (amtlich)
Beitragszuschlag in der sozialen Pflegeversicherung bei ungewollter Kinderlosigkeit
Orientierungssatz
1. Der Tatbestand des § 55 Abs. 3 SGB XI knüpft nicht an eine Behinderung, sondern an das Merkmal der Kinderlosigkeit ohne Rücksicht auf deren Gründe an (BVerfG, 2. September 2009, 1 BvR 1997/08).
2. Eine Befreiung behinderungsbedingt ungewollt Kinderloser vom Beitragszuschlag wäre unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht zu rechtfertigen.
Normenkette
SGB XI § 55 Abs. 3 Sätze 1-2, 7, § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 58 Abs. 1 S. 3, § 59 Abs. 4-5, § 60 Abs. 5; GG Art. 3 Abs. 1, 3 S. 2, Art. 6 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1, 3, Art. 100 Abs. 1; BVerfGG §§ 92, 93a Abs. 2, § 23 Abs. 1 S. 2; VersMedV Anlage zu § 2 Teil B Nr. 14.2; SGG § 184 Abs. 2, § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 202 S. 1; ZPO § 287
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 07.02.2018 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Klägerin hat Missbrauchskosten in Höhe von 750,- € an die Staatskasse zu zahlen.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin bei ungewollter Kinderlosigkeit einen Beitragszuschlag für kinderlose Versicherte in der sozialen Pflegeversicherung zu zahlen hat.
Die im Jahr 1983 geborene und bei der Beklagten versicherte Klägerin ist seit dem Jahr 2014 verheiratet und war bis zur Geburt ihrer Zwillinge im September 2017 kinderlos.
Am 03.06.2016 beantragte die Klägerin durch ihren Ehemann und anwaltlichen Bevollmächtigten "Erlass bzw. Befreiung von dem Beitragszuschlag für Kinderlose" in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten nach § 55 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) - vorsorglich mit Wirkung ab Januar 2016. Die Erhebung des Beitragszuschlags bei ungewollt Kinderlosen - wie bei ihr, bei der eine Sterilität diagnostiziert worden sei - sei rechtswidrig und sogar grob verfassungswidrig. Die Klägerin werde "durch die gesetzliche Regelung - so die reale Wirkung - dafür wirtschaftlich bestraft, schlichtweg in pervertierender Art und Weise diskriminiert, dass diese keine Kinder gebärt [sic!], um die Beitragsbefreiung zu bekommen."
Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 23.08.2016 ab.
Mit Schreiben vom 24.08.2016 legte der Bevollmächtigte der Klägerin Widerspruch ein und begründete diesen damit, dass "die momentane Rechtslage ... im Allgemeinen und individualbezogen grob verachtend" sei. Er begehre eine unverzügliche Verbscheidung, um eine Entscheidung durch das Bundessozialgericht (BSG) oder das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu erhalten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 07.11.2016 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Dagegen hat der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 09.11.2016 Klage zum Sozialgericht (SG) Bayreuth erhoben. Die Klägerin sei seit 2014 verheiratet. Seit 2014 werde vergeblich versucht, den Kinderwunsch umzusetzen. Bei der Klägerin sei eine Sterilität tubaren Ursprungs diagnostiziert worden. Daher sei am 03.06.2016 ein Antrag auf Befreiung vom Beitragszuschlag für Kinderlose gestellt worden, vorsorglich ab Januar 2016, was dem Zeitpunkt der Kenntnis von der medizinischen Tatsache der Kinderlosigkeit entspreche. Die §§ 55, 56 SGB XI würden keine Regelung darüber enthalten, wenn unverschuldet Kinderlosigkeit vorliege; ein entsprechender Befreiungstatbestand sei dem Gesetz konkret nicht zu entnehmen. Die fortlaufende Erhebung des Beitragszuschlags sei rechtswidrig, sogar grob verfassungswidrig. Die vom BVerfG geforderte Entlastung von pflegeversicherten Eltern gegenüber kinderlosen Versicherten dürfe durch einen Beitragszuschlag für Kinderlose umgesetzt werden, was das Landessozialgericht (LSG) Hessen mit Beschluss vom 17.04.2007, L 8 P 19/06, entschieden habe. Für die Sicherung des sozialen Pflegeversicherungssystems komme es darauf an, dass gegenüber einer demografisch stetig steigenden Anzahl von Pflegebedürftigen im Alter Einnahmen von beitragspflichtigen Versicherten in zureichendem Umfang erfolgten. Dieses Ziel solle mit dem Beitragszuschlag für Kinderlose erreicht werden. Zugleich habe diese Regelung die mittelbare Wirkung eines Anreizes an Versicherte, Kindernachwuchs zu zeugen und damit eine Befreiung vom Beitragszuschlag für Kinderlose zu bekommen. Im Hinblick auf die Klägerin lasse sich dieser Anreiz so nicht realisieren. Es liege eine krasse und unverhältnismäßige Ungleichbehandlung nach Artn. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 und 20 Abs. 1 und 3 Grundgesetz (GG) vor. Der unbeschreibliche Kinderwunsch die Klägerin könne aus unverschuldeten Gründen nicht realisiert werden. Die Klägerin fühle sich quasi nicht als vollständige Frau, Leben schenken zu können. Ehe und Familie stünden unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gemäß Art. 6 GG. Dies inkludiere die freie Entscheidun...