BVerfG zu Belastung kinderreicher Familien bei Pflegeversicherung

Das BVerfG hat die von der Kinderzahl unabhängige gleiche Belastung beitragspflichtiger Eltern in der sozialen Pflegeversicherung für verfassungswidrig erklärt. Die Beitragsberechnung bei Renten- und Krankenversicherung ist hingegen verfassungskonform.

In einem Grundsatzbeschluss hat der erste Senat des BVerfG über die Vorlage eines Sozialgerichts und über zwei Verfassungsbeschwerden entschieden. Danach ist das gegenwärtige System der sozialen Pflegeversicherung insoweit mit der Verfassung nicht vereinbar, als der mit steigender Kinderzahl anwachsende Erziehungsmehraufwand im Beitragsrecht keine Berücksichtigung findet. Die geltenden Regeln zur Beitragsbemessung in der Renten- und in der Krankenversicherung hat das höchste deutsche Gericht dagegen nicht beanstandet.

Die geltenden Berechnungsgrundsätze der Beiträge zur Pflegeversicherung

In der sozialen Pflegeversicherung ist seit dem 1.1.2019 ein allgemeiner Beitragssatz in Höhe von 3,05 % festgelegt. Für Kinderlose, die das 23. Lebensjahr vollendet haben, erhöhte sich der Beitragssatz bis 31.12.2021 um einen Zuschlag in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten, seit 1.1.2022 um 0,35 Beitragssatzpunkte. Diese Zuschläge sind vom sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stets alleine ohne Beteiligung des Arbeitgebers zu tragen, § 55 Abs. 3 Satz 1 u. 2 SGB XI.

Fehlende Erziehungsleistungen rechtfertigen Zuschläge für Kinderlose

Den Zuschlag für Kinderlose rechtfertigt der Gesetzgeber damit, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen, mit diesen Erziehungsleistungen neben dem Geldbeitrag zur Pflegeversicherung einen zusätzlichen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten. Deshalb sei es gerecht, Mitglieder der Pflegeversicherung, die einen solchen faktischen Beitrag nicht erbringen, mit einem Zuschlag zu belasten.

Beschwerdeführer rügen Gleichbehandlung von Familien mit unterschiedlicher Kinderzahl

Vor diesem Hintergrund warfen ein SG in einem Vorlageverfahren sowie zwei Beschwerdeführer in ihren Verfassungsbeschwerden die Frage auf, ob diese pauschale Privilegierung der Eltern von Kindern gegenüber Kinderlosen unabhängig von der Kinderzahl gerechtfertigt ist oder ob eine Beitragsdifferenzierung im Hinblick auf den je nach Zahl der Kinder stark unterschiedlichen Umfang der Erziehungsleistungen in Abhängigkeit von der Kinderzahl geboten wäre.

Mehraufwand kinderreicher Eltern findet zu wenig Berücksichtigung

Das BVerfG teilte die Zweifel des SG und der Beschwerdeführer an der Vereinbarkeit dieser pauschalen Gleichbehandlung Erziehender unabhängig von der Kinderzahl. In der Realität steige der wirtschaftliche Aufwand für die Kindererziehung mit wachsender Kinderzahl substantiell an. Trotz gesetzgeberischer Maßnahmen mit dem Ziel des allgemeinen Familienleistungsausgleichs zur Kompensation des Kindererziehungsaufwands sei das reale Erwerbsvolumen von Müttern mit mehr Kindern gegenüber solchen mit weniger Kinder signifikant niedriger. Im Ergebnis führe die gleiche Beitragsbelastung innerhalb der Gruppe der Eltern mit unterschiedlich vielen Kindern zu einer spezifischen Benachteiligung der Eltern, die eine größere Zahl an Kindern erziehen. Diese Benachteiligung werde im System der sozialen Pflegeversicherung nicht hinreichend kompensiert.

Geltende Beitragsberechnung verstößt gegen das Gleichheitsgebot

Im Ergebnis bewertete das BVerfG diese Form der Beitragsberechnung auf der Grundlage der geltenden §§ 55, 57 SGB XI als Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG. Nach dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz müsse Gleiches gleich und dürfe substantiell Ungleiches nicht gleich behandelt werden. Hier behandle der Gesetzgeber substantiell Ungleiches - nämlich Familien mit mehr oder mit weniger Kindern - in unzulässiger Weise durch gleiche Beitragssätze gleich.

Gesetzgeberische Typisierungsbefugnis rechtfertigt Gleichbehandlung nicht

Die Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte kann nach der Rechtsprechung des BVerfG im Rahmen des dem Gesetzgeber zustehenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraums im Einzelfall zum Zweck der Typisierung bestimmter Lebenssachverhalte zulässig sein. Dies gelte z.B. dann, wenn eine Typisierung bestimmter Lebenssachverhalte aus verwaltungstechnischen und praktischen Erwägungen heraus die verwaltungstechnische Bearbeitung solcher Vorgänge erheblich erleichtert oder sogar erst praktikabel macht. Die dadurch eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten für Einzelne dürften im Rahmen einer solchen Typisierung aber nicht unverhältnismäßig sein. Vorliegend sei dies Grenze der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers überschritten, da die Benachteiligung der Versicherten mit mehr Kindern gegenüber den Versicherten mit weniger Kinder ein solches Gewicht habe, dass eine Gleichbehandlung nicht mehr vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gedeckt sei.

Beitragsberechnung in der Pflegeversicherung ist grundgesetzwidrig

Hinsichtlich der Pflegeversicherung gelangte das BVerfG daher zu dem Ergebnis, dass die bisherige Beitragsbemessung mit dem GG nicht vereinbar ist. Das Gericht räumte dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 31.07.2023 ein, eine der Verfassung entsprechende Neuregelung zu treffen.

Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge sind verfassungskonform

Hinsichtlich der ebenfalls von den Beschwerdeführern angegriffenen Beitragsbelastung in der Renten- und in der Krankenversicherung kam das BVerfG zu anderen Ergebnissen.

Die Belastung mit gleich hohen Rentenversicherungsbeiträgen der Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung, gleich ob kinderlos, mit einem Kind oder mit mehr Kindern beanstandeten die Verfassungsrichter nicht. Die Belastungsunterschiede würden nach dem geltenden System der gesetzlichen Rentenversicherung ausreichend kompensiert. Dies gelte in ähnlicher Weise für das System der gesetzlichen Krankenversicherung.

In der Rentenversicherung sorgen Kindererziehungszeiten für angemessenen Ausgleich

Insbesondere die Anerkennung von Kindererziehungszeiten gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VI dient nach der Bewertung des BVerfG im umlagefinanzierten System der gesetzlichen Rentenversicherung einer angemessenen Honorierung des Wertes der Kindererziehung. Die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren führe nach Erfüllung der allgemeinen Wartezeit zu einer eigenständigen Rentenanwartschaft. Diese Anerkennung der Kindererziehungszeiten auf der Leistungsseite stelle sich zugleich als faktische Entlastung auf der Beitragsseite da, da der kindererziehende Versicherte die Zahlung entsprechender Rentenbeiträge auf diese Weise erspare und dennoch eine Rentenanwartschaft erwerbe.

Bei der Krankenversicherung sorgt die beitragsfreie Familienversicherung für Ausgleich

Auch das Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung verletzt nach Auffassung des BVerfG nicht den Gleichheitssatz des Art. 3 GG. Hier finde die Kompensation für Familien mit Kindern in hinreichender Weise durch die vom Gesetzgeber geschaffene beitragsfreie Familienversicherung im System der gesetzlichen Krankenversicherung statt. Dieses System beinhalte eine signifikante Beitragsentlastung für Eltern, die Kinder erziehen. Mit der Zahl der Kinder steige automatisch das Gewicht der Beitragsentlastung. Verfassungsrechtlich sei diese Regelung nicht zu beanstanden.


(BVerfG, Beschluss v. 7.4.2022, 1 BvL 3/18; 1 BvR 2824/17; 1 BvR 2257/16 u. 1 BvR 717/16)


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