Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Nichtinanspruchnahme einer zusprechenden Entscheidung nach zunächst erfolgter Beantragung eines Hängebeschlusses wegen besonderer Dringlichkeit (hier: keine Nutzung einer positiven Eilentscheidung auf medikamentöse Versorgung wegen des Kostenrisikos einer etwaigen Rückforderung). Beurteilung im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. fehlende Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Die Frage, ob ein Anordnungsgrund gegeben ist, darf nicht schematisch beurteilt werden. Erforderlich ist eine wertende Betrachtung im Rahmen einer Einzelfallentscheidung. Dabei dürfen die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes nicht überspannt werden.
2. Wird mit der zunächst erfolgten Beantragung eines Hängebeschlusses eine besondere Dringlichkeit angegeben, dann aber trotz einer zusprechenden erstinstanzlichen Entscheidung im normalen Eilrechtsschutz von der Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Leistung mit Blick auf einen etwaigen Rückforderungsanspruch abgesehen und ist auch nicht überwiegend wahrscheinlich, dass eine zusprechende zweitinstanzliche Entscheidung in Anspruch genommen wird, ist ein Anordnungsgrund nicht (mehr) glaubhaft gemacht.
Tenor
I. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 18.01.2021 aufgehoben und der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller und Beschwerdegegner (im Folgenden: Antragsteller) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes von der Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragsgegnerin) die Erteilung einer Abgabegenehmigung für die Apothekenabgabe einzeln importierter Arzneimittel nach § 73 Abs. 1 oder 3 Arzneimittelgesetz (AMG) für das Medikament Translarna(r) (im Folgenden: Translarna), Wirkstoff: Ataluren.
Anwendungsgebiet von Translarna ist laut Fachinformation die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie infolge einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen bei gehfähigen Patienten im Alter ab zwei Jahren. Das Vorliegen einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen ist durch Gentest nachzuweisen (Fachinformation Translarna 125 mg/250 mg/1.000 mg Granulat zur Herstellung einer Suspension zum Einnehmen, Stand 07/2020).
Der im Jahr 2009 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Er ist erkrankt an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, humangenetisch gesichert, Mutation im Exon 41 c.5899C≫T, pArg1967Stop (Institut für Humangenetik W, 21.03.2017).
Mit Bescheid vom 20.01.2020 erteilte die Antragsgegnerin für den ursprünglich noch gehfähigen Antragsteller eine Genehmigung für die Apothekenabgabe von einzeln importierten Arzneimitteln für das Medikament Translarna nach § 73 Abs. 1 oder 3 AMG zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung bis 31.03.2020.
Bereits mit Schreiben vom 13.02.2020 beantragte der Antragsteller über die Universitätsklinik E eine weitere Genehmigung der Krankenkasse für das Medikament Translarna.
Der Antrag wurde nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in Bayern vom 18.03.2020 (W) mit nicht angegriffenem Bescheid vom 25.03.2020 abgelehnt.
Mit ärztlichem Attest des Universitätsklinikums E vom 15.09.2020, bei der Antragsgegnerin eingegangen am 22.09.2020, beantragte der nicht mehr gehfähige Antragsteller aufgrund der bestehenden Muskeldystrophie vom Typ Duchenne die Kostenübernahme für die Behandlung mit dem Medikament Translarna. Die Erkrankung des Antragstellers sei lebensbedrohlich, lebenszeitverkürzend und die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigend. Sie führe zum Gehverlust, zu Herzversagen und zu Ateminsuffizienz mit Tod im jungen Erwachsenenalter. Der Antragsteller zeige ausgeprägte Krankheitssymptome und sei bei krankheitsbedingtem Verlust der Gehfähigkeit seit ca. einem Jahr dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen. Der Antragsteller erhalte derzeit das Medikament Translarna. Es diene der Erhaltung der Muskelrestfunktion sowie der Erhaltung der Restbeweglichkeit. Es sei von einem Behandlungserfolg auszugehen, da beim Antragsteller bislang keine weiteren schwerwiegenden Krankheitskomplikationen, z.B. behandlungsbedürftige Pneumonien, aufgetreten seien. Die Vermeidung bzw. die Herauszögerung der Erkrankungskomplikationen korreliere aus fachärztlicher Sicht direkt mit der konsequenten Einnahme des Medikaments Translarna. Unerwünschte Nebenwirkungen gebe es nicht. Seit der letzten Antragstellung auf Kostenübernahme habe sich keine Änderung ergeben. In Deutschland gelte die Behandlung mit Translarna (Ataluren) inzwischen als anerkannte Therapie bei Patienten mit einer Duchenne-Muskeldystrophie. Die von der Antragsgegnerin im März des Jahres mitgeteilte Einschätzung, dass keine Wirkungsfähigkeit ...