Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Aussetzung des Klageverfahrens zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens. analoge Anwendung von § 114 Abs 2 S 2 SGG. Ermessensentscheidung. Tatbestandsvoraussetzung ist kein Ermessensgesichtspunkt
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Aussetzung des Verfahrens zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens ist analog § 114 Abs 2 S 2 SGG möglich. Voraussetzung ist eine Antragstellung durch einen Beteiligten sowie eine Ermessensentscheidung des Gerichts.
2. Eine vom Gesetzgeber vorgegebene Tatbestandsvoraussetzung kann nicht gleichzeitig ein Ermessensgesichtspunkt sein.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 15. August 2017 wird aufgehoben.
Gründe
I.
Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (im Folgenden: Beschwerdeführer) richtet sich gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Bayreuth vom 15.08.2017, mit dem das SG das Klageverfahren ausgesetzt hat.
In der Hauptsache begehrt der Beschwerdeführer die Versorgung mit einer elektrischen Treppensteighilfe.
Mit Bescheid vom 07.04.2017 lehnte die Beklagte und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beschwerdegegnerin) die Versorgung mit der vom Beschwerdeführer begehrten Treppensteighilfe ab. Mit Eingang bei der Beschwerdegegnerin am 10.04.2017 legte der Beschwerdeführer Widerspruch ein und begründete diesen mit Schreiben vom 24.04.2017.
Ohne den Erlass eines Widerspruchsbescheids abzuwarten, hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 01.08.2017 Klage zum SG Bayreuth erhoben. Die Beschwerdegegnerin hat mit Schreiben vom 10.08.2017 mitgeteilt, dass die Prozessvoraussetzungen nicht erfüllt seien, weil der Klage nicht das Vorverfahren gemäß §§ 78 ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorausgegangen sei; sie habe das Widerspruchsverfahren nachzuholen.
Mit Beschluss vom 15.08.2017 hat das SG das anhängige Klageverfahren ausgesetzt und diese Entscheidung wie folgt begründet:
"Der Aussetzungsbeschluss ergeht analog § 114 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Durchführung des Widerspruchsverfahrens."
Gegen diesen Beschluss hat der Beschwerdeführer mit Eingang beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) am 23.08.2017 Beschwerde eingelegt und diese mit Schreiben vom 24.08.2017 wie folgt begründet: Die Beschwerdegegnerin habe ihm gegenüber eine Verschleppungstaktik betrieben. Sie habe sämtliche von ihm gesetzte Fristen zur Erwirkung eines Widerspruchsbescheids verstreichen lassen. Stattdessen fordere die Beschwerdegegnerin unsinnigerweise weitere ärztliche Gutachten. Das SG hätte das Verfahren nicht vertagen dürfen, da der Ausgang des Widerspruchsverfahrens von vornherein klar sei. Noch nie habe die Beschwerdegegnerin einem Widerspruch in seinen Angelegenheiten stattgegeben. Das SG hätte der Beschwerdegegnerin eine mit Bußgeld bewehrte Frist für einen Widerspruchsbescheid auferlegen müssen. Eine Vertagung bringe keinerlei Fortschritt und ermuntere die Beklagte nur in ihrem bisherigen Vorgehen. Er beantrage eine Fristsetzung durch das LSG.
Ergänzend wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde gegen den Aussetzungsbeschluss des SG ist zulässig, insbesondere ist sie gemäß § 172 Abs. 1 SGG statthaft. § 172 Abs. 2 SGG ist nicht einschlägig, da es sich bei einem Aussetzungsbeschluss nicht nur um eine prozessleitende Verfügung handelt (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 114, Rdnr. 9; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders./Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 172, Rdnr. 3 - jeweils m.w.N.).
Die Beschwerde ist auch begründet.
Die Aussetzung eines Klageverfahrens ist analog § 114 Abs. 2 SGG möglich, wenn die Klage vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens erhoben worden ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 24.10.2013, B 13 R 31/12 R, und Beschluss vom 01.07.2014, B 1 KR 99/13 B).
Für eine Aussetzung ist ein Antrag eines Beteiligten Voraussetzung (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 05.05.2014, L 11 AS 325/14 B). Sofern Keller (vgl. a.a.O., § 114, Rdnr. 5) ohne irgendeine Begründung davon ausgeht, dass es bei der Aussetzung zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens eines Antrags eines Beteiligten nicht bedürfe, kann der Senat dem nicht folgen. Bei der analogen Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG ist dessen Satz 2 zugrunde zu legen, der ausdrücklich einen Antrag eines Beteiligten voraussetzt. Denn die Aussetzung zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens ähnelt ganz stark der Aussetzung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern, sodass für die Aussetzung wegen Nachholung des Widerspruchsverfahrens § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechend heranzuziehen ist, nicht aber die Regelung des § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG, die eine Aussetzung antragsunabhängig zulässt.
Weiter bedarf es nach dem klaren Wortlaut des § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG ("kann ... aussetzen") für die Aussetzung einer Ermessensentscheidung dahingehend, ob eine Aussetzung angezeigt ist oder die Nachholung des Widerspruchsverfahrens ohne Aussetzung abzuwarten ist. Dabei kann nicht grundsätzlich von e...