Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Impfschaden. Polio- und Tetanusimpfung. Encephalitis oder Mononeuritiden. Kausalzusammenhang. erforderlicher Vollbeweis einer Impfkomplikation. zeitlicher Zusammenhang. Fehlen von medizinischen Unterlagen. ungefähre Angaben der Eltern aus der Erinnerung nicht ausreichend. keine Beweiserleichterung durch Rechtsprechung. Aufgabe des Gesetzgebers. sozialgerichtliches Verfahren. Grundurteil über Impfentschädigung. Notwendigkeit einer GdS-Feststellung
Leitsatz (amtlich)
1. Die gesundheitliche Schädigung als Primärschädigung, dh die Impfkomplikation, muss neben der Impfung und dem Impfschaden, dh der dauerhaften gesundheitlichen Schädigung, im Vollbeweis nachgewiesen sein (Fortsetzung der Rspr des Senats).
2. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, hier zur Erleichterung des Zugangs zu Entschädigungsleistungen für Impfschäden entgegen der gesetzlichen Systematik des Sozialen Entschädigungsrechts von geminderten Voraussetzungen auszugehen. Hier Abhilfe zu schaffen, wäre Aufgabe des Gesetzgebers.
3. Ein Grundurteil erfüllt nicht die Voraussetzungen von § 130 Abs 1 SGG , wenn zwar der Beginn der ausgeurteilten Rente tenoriert wird und auch Feststellungen zu den Schädigungsfolgen im Tenor enthalten sind, es jedoch an der Bestimmung des GdS als einer notwendigen Anspruchsvoraussetzung fehlt.
4. Zum Prüfungsrahmen bei § 44 SGB X .
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 11.09.2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Impfschadens und eine Beschädigtenversorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG).
Der 1973 geborene Kläger erhielt am 15.11.1974, am 24.01.1975 und am 14.11.1975 Impfungen gegen Kinderlähmung (Polio). Die Impfungen erfolgten (durch das Staatliche Gesundheitsamt I) mit dem Impfstoff Sabin. Ferner erhielt der Kläger am 27.12.1978 eine Tetanusimpfung.
Für den Kläger ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach§ 152 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) festgesetzt worden (u.a. für hochgradige partiell an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachentwicklungsstörungen - Einzel-GdB 80, seelische Krankheit - Einzel-GdB 50).
Einen ersten Antrag auf Versorgung nach dem IfSG stellte der Kläger am 23.05.2005, der auf die Anerkennung und Entschädigung der Gesundheitsstörungen Hirnschaden, Taubheit, Sprachstörung und Störungen des Schlafrhythmus gerichtet war.
Der Beklagte wertete zahlreiche vorliegende medizinische Unterlagen aus, so den an den damaligen Hausarzt des Klägers gerichteten Arztbrief des Neurologen B vom 06.05.1977, in dem u.a. festgestellt wurde, dass bei der neurologischen Untersuchung der Kläger geistig retardiert gewirkt habe. Es habe den Anschein, so B, dass eine hirnorganisch fundierte Sprachentwicklungsstörung, möglicherweise aufgrund eines perinatalen Hirnschadens, bestehe.
Ab August 1977 besuchte der Kläger einen Sonderkindergarten für behinderte Kinder. Das Versorgungsamt Augsburg stellte damals mit Bescheid vom 14.02.1978 die Behinderung Hirnschädigung bei Morbus Down und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 % fest.
Am 31.08.1978 stellte sich der Kläger in der entwicklungsneurologischen Sprechstunde der Universitätskinderklinik T vor. Im Bericht der Klinik vom 20.10.1978 wurden insbesondere eine Sprachentwicklungsverzögerung und eine visuelle Perzeptionsstörung festgestellt. Im Einzelnen wurde in dem Bericht festgehalten: "... Mit 12 Monaten konnte er gezielt Auto sprechen... Er spreche jetzt gut 50 Wörter, teils in 3-Wortsätzen. Vieles spreche er spontan nach, das er nachher nicht verwenden könne. verstehe recht viel, doch häufig mit Schwierigkeiten, mit dem was über seinen eigenen Wortschatz hinausgeht... Befund: spricht undeutlich durch die Nase, sagt dabei aber längere Sätze wie z.B.: ‚Da ist schönes Auto, guck! Auto Schnee.‚ Statt Fisch sagt er Schiff... Beurteilung: Bei liegt eine Sprachentwicklungsverzögerung vor mit eingeschränktem Wortschatz, Dyslalie und Dysgrammatismus... Zum sicheren Ausschluss einer leichten bis mittelgradigen Hörbehinderung empfahlen wir die Kontrolle der Hörprüfung, ..."
Ein Bericht der HNO-Klinik U aus der damaligen Zeit liegt nicht (mehr) vor. Vom 17.01.1979 bis 13.02.1979 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung in der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke der Ludwig-Maximilians-Universität M In der Epikrise vom 15.02.1979 wurde Folgendes festgehalten: "... es handelt sich beidseits um eine nahezu symmetrische hochgradige Innenohrschwerhörigkeit... Aufgrund dieser Befunde führten wir die Anpassung von Hörgeräten beiderseits durch. kam mit den Hörgeräten gut zurecht, er reagierte wesentlich besser und sein Sprachschatz entwickelte sich etwas. Eine weitere Förderung des Kindes ist aber ...