Entscheidungsstichwort (Thema)
Impfschadensrecht: Erfordernis eines Vollbeweises beim Primärschaden
Leitsatz (amtlich)
1. Die gesundheitliche Schädigung als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, muss neben der Impfung und dem Impfschaden, d.h. der dauerhaften gesundheitlichen Schädigung, im Vollbeweis nachgewiesen sein (Fortsetzung der Rspr. des Senats).
2. Zur Wahrscheinlichkeit einer virämischen Schädigung eines ungeborenen Kindes durch Ansteckung der Mutter durch den gegen Pocken geimpften Vater oder Bruder.
Orientierungssatz
Zitierungen zu Leitsatz 1: Vergleiche LSG München, 26. März 2019, L 15 VJ 9/16, LSG München, 14. Mai 2019, L 15 VJ 9/17, LSG München, 2. Juli 2019, L 15 VJ 4/16
Normenkette
IfSG § 2 Nr. 11, § 60 Abs. 1 S. 1, § 61 Sätze 1-2; SGG §§ 106, 109 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 19.06.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Versorgung nach dem Impfschadensrecht gemäß §§ 60 ff Infektionsschutzgesetz (IfSG) hat.
Der 1976 geborene Kläger ist taub und leidet zudem an einer Sprachstörung.
Am 31.05.2003 beantragte er die Anerkennung dieser Gesundheitsstörungen als Folge einer Impfschädigung. Dabei machte er für die Gesundheitsstörungen eine Pockenschutzimpfung seiner 1949 geborenen Mutter, E. A., verantwortlich. Die Pockenschutzimpfung sei laut vorgelegter Kopie des Impfpasses am 09.06.1975 durchgeführt worden. Der Kläger legte weiter einen "Zeugenbericht" seiner Eltern über seine frühkindliche Entwicklung vom 30.01.2005 vor.
Unter anderem auf eine Auskunft des Stadtgesundheitsamts der Stadt F. hin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 04.04.2005 den Antrag ab, da die Durchführung einer Pockenschutzimpfung der Mutter nicht nachgewiesen sei; der Impfpasseintrag sei vielmehr als Attest zu verstehen, wonach eine Pockenschutzimpfung der Mutter wegen Schwangerschaft kontraindiziert gewesen sei. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 11.05.2005 zurückgewiesen.
Hiergegen erhob der Kläger am 09.06.2005 Klage zum Sozialgericht (SG) München (Aktenzeichen S 33 VJ 3/05) und trug vor, dass in dem Impfbuch eindeutig eine Impfung seiner Mutter am 09.06.1975 dokumentiert sei.
In einem an den Beklagten gerichteten Schreiben vom 29.10.2009 erweiterte der Kläger seinen Antrag vom 31.05.2003. Er wies darauf hin, dass sich bei ihm alles immer wieder um die Frage drehe, weshalb er ertaubt sei, obgleich er vier normal hörende, gesunde Geschwister habe. Nun habe er auch den Impfpass seines Vaters, P. A. (geboren 1948), entdeckt und herausgefunden, dass dieser am 16.06.1975 (ebenfalls) gegen Pocken geimpft worden sei. Somit sei davon auszugehen, dass infolge des Geschlechtsverkehrs seiner Eltern während der Schwangerschaft, die am 24.04.1975 begonnen habe, die Impfviren von der Pockenimpfung seines Vaters auf ihn als Embryo übertragen worden seien und dadurch seine Taubheit entstanden sei. Der Kläger legte zahlreiche Unterlagen vor, insbesondere eine Kopie des Impfbuchs seines Vaters, aus dem sich eine Impfung gegen Pocken am 16.06.1975 durch das Stadtgesundheitsamt F. ergibt.
Das SG hat sodann Beweis erhoben durch ein medizinisches Sachverständigengutachten (§ 106 Sozialgerichtsgesetz - SGG) des Arztes Dr. H.. In seinem Gutachten vom 06.01.2011, das nach Aktenlage erstellt wurde, stellte Dr. H. fest, dass eine Impfung der Mutter gegen Pocken definitiv nicht vorgenommen worden sei. Wegen der geplanten Reise in den Libanon sei bei dem Vater des Klägers am 16.06.1975 eine Wiederholungsimpfung gegen Pocken durchgeführt worden. Über unerwünschte Wirkungen dieser zweiten Wiederholungsimpfung würde in den Akten, so Dr. H., nicht berichtet. In der Kindheit sei der Vater des Klägers bereits am 14.07.1950 und am 03.05.1960 gegen Pocken mit dokumentiertem Erfolg geimpft worden. Bei diesen Impfungen und auch bei der Wiederholungsimpfung vom 02.07.1968 seien keine Impfkomplikationen berichtet worden. Dr. H. hat im Gutachten weiter festgehalten, dass sich die Geburt des Klägers ebenfalls komplikationslos gestaltet habe. Es habe also mit Sicherheit keine auffällige Hauterscheinung im Sinne einer fetalen generalisierten Impfpockenerkrankung (Vaccinia fetalis) vorgelegen, die als Komplikation der Pockenimpfung bei Impfungen in der Schwangerschaft bekannt sei.
Der Kläger habe mit etwa 20 Monaten zu laufen und zu sprechen begonnen und habe im Sommer 1979 einen Wortschatz von etwa 30 Wörtern entwickelt. Der Wortschatz habe sich danach aber wieder reduziert und es sei, so Dr. H., zunehmend aufgefallen, dass der Kläger schlecht höre. Bei einer anschließenden Untersuchung in der HNO-Abteilung der Uniklinik M. sei eine hochgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit und eine audiogene Sprachentwicklungsverzögerung festgestellt worden. Die Taubheit bestehe unve...