Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. Verletztenrente. MdE. Unfallfolge. Wesentliche Änderung. Ursächlicher Zusammenhang. Knalltrauma. Tinnitus. Verschlechterung des Hörvermögens. Depression. Gutachten

 

Leitsatz (amtlich)

Auch wenn eine Hörminderung, ein Tinnitus oder eine psychische Gesundheitsstörung als Unfallfolgen eines einmaligen Knalltraumas anerkannt sind, ist bei späteren Verschlechterungen dieser Gesundheitsstörungen zu prüfen, ob und inwieweit auch diese Veränderungen noch auf den Unfall als wesentliche (Teil ) Ursache oder auf andere Ursachen zurückzuführen sind.

Eine Verschlechterung des jahrelang konstanten Hörvermögens über 20 Jahre nach einem einmaligen Knalltrauma ist angesichts des zeitlichen Abstandes nach allgemeinen wissenschaftlichen Erfahrungssätzen nicht mehr ursächlich auf das einmalige Knalltrauma zurückzuführen.

Sind für die Verschlechterung der psychischen Verfassung nicht Unfallfolgen oder wesentliche Teilursache, sondern beruht diese auf einer unfallunabhängigen Verschlechterung der Gesundheit oder auf weiteren Belastungsfaktoren, ist die Verschlechterung der psychischen Erkrankung selbst nicht Unfallfolge und kann keine höhere MdE begründen.

Wurde bereits ein Gutachten nach § 109 SGG eingeholt, setzt die Einholung eines weiteren Gutachtens nach § 109 SGG von einem anderen Sachverständigen auf demselben Fachgebiet besondere Gründe voraus. Dass das Gericht zwischenzeitlich ein Gutachten von Amts wegen nach § 106 SGG eingeholt hat, begründet allein nicht generell eine erneute Anhörung nach § 109 SGG (Anschluss an Keller in Meyer Ladewig/ Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 10. Auflage, zu § 109 RdNr. 11b, 10b).

 

Normenkette

SGB X § 48 Abs. 1; SGB VII § 73 Abs. 3; SGG §§ 106, 109

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16. Juni 2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf höhere Verletztenrente als nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. wegen Verschlimmerung der Folgen des Arbeitsunfalls vom 01.01.1983 hat, insbesondere wegen Verschlechterung der psychischen Beschwerden aufgrund Tinnitus.

Der 1945 in Bosnien geborene Kläger konnte nach dem Grundschulbesuch zunächst aus finanziellen Gründen keine weiterführende Schule besuchen. Er erarbeitete sich zum Teil den Schulstoff im Selbststudium, zog ca. 1960 nach Kroatien zu Bekannten, wo er die Schule - unterbrochen von einer Lungenerkrankung und vom Militärdienst - besuchte und ca. 1970 das Abitur ablegte. Nach einem Aufenthalt in England zog er 1972 nach Deutschland, legte das deutsche Abitur ab und studierte bis 1979 Medizin, wobei er das Studium durch Arbeit selbst finanzierte. 1988 legte er die Facharztprüfung als Internist ab und arbeitete ab 1989 als Oberarzt des Kreiskrankenhauses (KKH) in P.. Nach Umstrukturierungen arbeitete er 2004 noch ca. 2-3 Monate in A-Stadt, bevor er im Dezember 2004 arbeitsunfähig wurde. Seit Dezember 2005 bezieht er vorzeitige Rente. Der Kläger ist seit 1982 verheiratet und hat vier Kinder. Bei der ältesten Tochter ist seit Mai 2004 ein Ewing-Sarkom im Becken- und Oberschenkelbereich bekannt. Operativ wurde ihr das halbe Becken entfernt; es bestand eine Hüftkopfnekrose.

In der Silvesternacht 1982/1983 hatte der Kläger Bereitschaftsdienst als Stationsarzt in der L. Klinik Bad S.. Als er gegen 0.30 Uhr/ 1.00 Uhr vor die Eingangstür trat, um nachzusehen, ob sich dort noch Patienten aufhielten, explodierte links neben ihm ein Knallkörper. Nach seinem Schreiben an die Beklagte vom 17.03.1983 empfand er einen dumpfen Schmerz am linken Ohr, maß dem aber zunächst keine größere Bedeutung und ging in die Klinik zurück. Wie geplant fuhr er am nächsten Tag nach B.. Als sich der Schmerz und die aufgetretene Hörminderung verstärkten und am 02.01.1983 Ohrensausen hinzukam, begab er sich in das Krankenhaus (KH) W. (B.). Dort wurde er vom 02.01. bis 19.01.1983 stationär wegen einer Innenohrschwerhörigkeit links nach Knalltrauma sowie Tinnitus links behandelt. Festgestellt wurde links ein Schallempfindungsverlust von 30 dB im Tiefton- und Hauptsprachbereich, der sich nach Therapie normalisierte (normales Hörvermögen), während der Hochtonabfall ab 6 kHz beidseits fortbestand. Anschließend erfolgen Behandlungen wegen Sinusitis und Septumdeviation.

Über den weiteren Behandlungsverlauf liegen nur wenige Unterlagen vor. Nach Angaben des Klägers, holte er sich als Arzt wegen des Tinnitus von ärztlichen Kollegen Rat und organisierte nach ihren Empfehlungen häufig Medikamente und Infusionen selbst.

Der Hals-Nasen-Ohren (HNO-) Arzt Dr. W. behandelte den Kläger laut Bericht vom 06.08.2001 1986 wegen Spannungsgefühl im linken Ohr mit zeitweiligen, zum Nacken ausstrahlenden Schmerzen und am 1988 wegen Eiterfluss aus der Nase. Als Diagnosen nannte er eine Perceptionsschwerhörigkeit im Hochtonbereich beidseits...

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