Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsförderung. Arbeitslosengeldanspruch. Ruhen des Anspruchs bei Entlassungsentschädigung. Aufhebungsvereinbarung mit Abfindung. kein zeitlich unbegrenzter Ausschluss einer ordentlichen Kündigung durch Radolfzell II-Abkommen
Leitsatz (amtlich)
Eine Kündigung nicht tarifgebundener Arbeitnehmer ist durch Ziffer 6 Abs 3 des Radolfzell II-Abkommens nicht ausgeschlossen. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht damit nicht für 18 Monate gemäß § 158 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB 3
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.04.2021 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 24.12.2019 bis 08.09.2020 im Hinblick auf die Gewährung einer Entlassungsentschädigung.
Die 1969 geborene Klägerin war seit 01.11.1998 bei der Fa. S und ab 01.12.2016 bei der S AG (S), zuletzt als Senior Consultant/Projektmanagerin beschäftigt. Ausweislich des Zwischenzeugnisses vom 30.09.2014 und der Mitteilung der Personalabteilung der S vom 03.06.2022 war die Klägerin in einem außertariflichen Arbeitsverhältnis beschäftigt. Am 22.09.2010 haben die Firmenleitung und die zuständigen Arbeitnehmervertreter der S die unmittelbare Geltung der "Grundsätze bei Restrukturierungen und Strukturänderungen" (sog. Radolfzell II-Abkommen) im Betrieb der S vereinbart. Ziffer 6 Abs. 3 dieses Abkommens lautet: "Die Unterzeichner gehen davon aus, dass betriebsbedingte Kündigungen nicht ausgesprochen werden. Sollte es dennoch erforderlich sein, so kann dies nur einvernehmlich zwischen Firmenleitung, Gesamtbetriebsrat und IG Metall geschehen".
Die Klägerin schloss am 13.03.2019 mit S unter Verweis auf den von der Firmenleitung und den zuständigen Arbeitnehmervertretern vereinbarten Interessenausgleich und Sozialplan vom 24.09.2018 und die darin in Bezug genommene Vereinbarung über betriebsbedingte personelle Anpassungsmaßnahmen aufgrund von Betriebsänderungen vom selben Tage eine Aufhebungsvereinbarung. Vereinbart wurden eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses "aus betriebsbedingten Gründen" mit Ablauf des 30.09.2019 sowie Abfindungszahlungen i.H.v. insgesamt 452.169,70 Euro brutto. Der Klägerin sei bekannt, dass ihr Arbeitsplatz entfalle und dass das Arbeitsverhältnis aus betriebsbedingten Gründen beendet werden solle.
Am 09.10.2019 meldete die Klägerin sich bei der Beklagten mit Wirkung zum selben Tage persönlich arbeitslos und beantragte die Zahlung von Alg. In der Arbeitsbescheinigung vom 24.10.2019 teilte S mit, die für die Klägerin maßgebliche Kündigungsfrist habe sieben Monate zum Monatsende betragen. Die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber sei weder zeitlich begrenzt noch unbegrenzt ausgeschlossen gewesen. Die ordentliche Kündigung sei nicht nur bei Zahlung einer Abfindung, Entschädigung oder ähnlichen Leistung zulässig gewesen.
Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 06.11.2019 das Ruhen des Anspruchs der Klägerin auf Alg für die Zeit vom 09.10.2019 bis 08.09.2020 fest. Sie habe von ihrem bisherigen Arbeitgeber wegen der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses eine Leistung in Höhe von 452.169,70 € erhalten oder zu beanspruchen. Der Arbeitgeber hätte ihr nicht kündigen dürfen. Daher werde sie so behandelt, als habe sie eine Kündigungsfrist von 18 Monaten gehabt. Diese Frist sei nicht eingehalten worden. Leistungen könne sie erst nach dem Ruhenszeitraum erhalten. Der Zeitraum, für den der Anspruch ruhe, werde aus 25 % der Arbeitgeberleistungen berechnet. Der sich so ergebende Betrag werde durch das kalendertägliche Arbeitsentgelt der Klägerin geteilt. Hieraus ergebe sich die Zahl der Ruhenstage. Mit Bewilligungsbescheid ebenfalls vom 06.11.2019 bewilligte die Beklagte der Klägerin unter Beachtung des Ruhenszeitraums (und einer mit weiterem Bescheid vom 06.11.2019 bindend festgestellten Sperrzeit vom 01.10.2019 bis 23.12.2019) Alg für den Zeitraum vom 09.10.2020 bis zum 16.08.2021 i.H.v. 80,55 Euro täglich. Nachdem die Klägerin eine selbständige Tätigkeit aufgenommen hatte, hob die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Alg ab 15.03.2021 auf (Bescheid vom 15.03.2021).
Gegen den Ruhens- und den Bewilligungsbescheid vom 06.11.2019 erhob die Klägerin Widerspruch. Sie machte geltend, die ordentliche Kündigung der Arbeitgeberin sei nicht ausgeschlossen oder an die Zahlung einer Abfindung gekoppelt gewesen. Die Kündigungsfrist habe sieben Monate betragen. Mithin sei eine ordentliche Arbeitgeberkündigung zum 31.10.2019 möglich gewesen. Mit diesem Zeitpunkt ende das Ruhen. Unter Berücksichtigung der Sperrzeit habe die Klägerin ab 24.12.2019 Anspruch auf Alg.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.02.2020 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Für die Arbeitnehmer der S finde die fiktive Kündigungsfrist von 18 Monaten gemäß § ...