Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung: Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge. Feststellung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). A-Kriterium. Brückensymptome. Vermeidungsverhalten. Medizinische Beweiswürdigung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Vorliegen des sog. A Kriteriums nach dem ICD-10 (F 43.1).

2. Neben dem ICD-10 ist regelmäßig auch das Diagnosesystem der amerikanischen Fachgesellschaften (DSM) heranzuziehen. Das DSM-5 ersetzt als aktueller Stand der Wissenschaft den DSM-IV.

 

Orientierungssatz

1. Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme (zum Beispiel ICD-10, DSM-IV, DSM-5) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erforderlich, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (Vergleiche: BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, B 2 U 1/05 R).

2. Nach dem ICD-10 (F 43.1) setzt die Feststellung einer PTBS ein belastendes Ereignis oder eine Situation von kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß voraus, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (so genanntes A-Kriterium). Ein solches Ereignis liegt nicht vor, wenn man im Straßenverkehr als Fußgänger vor herannahenden Fahrzeugen zur Seite springen muss.

3. Auch unter der Geltung des DSM-5 sind nur schwere Verkehrsunfälle geeignet, das danach erforderliche A-Kriterium zu erfüllen.

 

Normenkette

SGB VII § 8; SGG § 55 Abs. 1 Nr. 3

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 29.07.2014 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Parteien ist streitig, ob psychische Störungen, insbesondere eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als Unfallfolgen im Sinne des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) festzustellen sind.

Die 1952 geborene Klägerin ist bei der Beklagten als selbstständige Unternehmerin freiwillig gesetzlich unfallversichert. Sie ist nicht gesetzlich, sondern privat krankenversichert. Sie erlitt am 15.12.2011 einen Arbeitsunfall. Als sie auf dem Weg von zuhause zu ihrem Schneiderladen eine Straße überqueren wollte, sah sie einen Lkw auf sie zukommen, sprang weg und stürzte dabei nach hinten.

Die Klägerin begab sich dann in ihr Geschäft und traf dort auf die Zeugin K. P.. Diese gab mit Schreiben vom 22.02.2012 an, die Klägerin sei kreideweiß gewesen und unter Schock gestanden. Sie habe über Schmerzen am ganzen Körper geklagt und gesagt, dass ein Lkw sie beinahe überfahren hätte. Sie sei nicht fähig gewesen zu sprechen und habe nur gewünscht, noch nachhause zu gehen. Sie sei dann auch gegangen. Wie, wisse sie nicht.

Ihren Angaben nach fuhr die Klägerin dann mit einem Taxi nachhause. Vier Tage später, am 19.12.2011, begab sie sich in ärztliche Behandlung.

In den Akten befindet sich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit zwei unleserlich übereinander angebrachten Arztstempeln vom 19.12.2011. Einerseits ist gerade noch erkennbar der Stempel eines Orthopäden Dr. G. aus A-Stadt. Darüber befindet sich der Stempel eines Frauenarztes "Dr. E...." Arbeitsunfähigkeit wurde bescheinigt rückwirkend zum 15.12.2011 bis einschließlich 15.01.2012. Als Diagnosen wurden angegeben: S 33.50 + G, S 13.4 + G, S 39.40 + G.

Die Klägerin selbst gab in dem Fragebogen der Beklagten zur Unfallermittlung am 13.01.2012 bezüglich der von ihr festgestellten Beschwerden und Unfallfolgen an: "verschiedene an Schulter - HWS, Hüfte - Rücken an Bein - Arm und Prellung an Hüfte - Po".

Die Beklagte ermittelte dann, dass Krankschreibung durch den Orthopäden Dr. G. erfolgt war, der am 16.01.2012 seinen H-Arzt-Bericht erstattete: demnach sei die Klägerin auf das Gesäß und auf die linke Schulter gestürzt. Sie habe über massive Beschwerden im unteren LWS-Bereich, im HWS-Bereich, im Bereich der linken Schulter und am linken Sprunggelenk geklagt. Beim Röntgen der LWS und der HWS habe sich kein Frakturhinweis ergeben, jedoch hätten sich degenerative Veränderungen der Facettengelenke im Bereich der HWS gezeigt.

Die Klägerin wurde von Dr. G. mit Facettengelenksinfiltrationen behandelt, der am 10.01.2012 bescheinigte, dass sie ab dem 16.01.2012 wieder arbeitsfähig wäre.

In dem von der Beklagten angeforderten Bericht vom 10.02.2012 teilte Dr. G. nebenbefundlich mit, dass die Klägerin auch berichtet habe, seit dem Unfalltrauma mit dem Bild des heranrasenden Lastwagens unter starken Schlafstörungen zu leiden und auch Angstzustände zu haben. Sie wolle jetzt einen Neurologen bzw. Psychiater aufsuchen.

Mit Bescheid vom 28.02.2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin Verletztengeld für die Zeit vom 15.12.2011 bis zum 15.01.2012. Die Höhe des Verletztengeldes für diesen Zeitraum betrug 5333,44 €.

Die Klägerin erhielt ab dem 01.03.2012 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von der Praxis für Neurologi...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge