Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Erhebung der Entschädigungsklage in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren des Ausgangsverfahrens. verfrühte Entschädigungsklage. Wartefrist des § 198 Abs 5 S 1 GVG. Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der Klageerhebung. keine teleologische Reduktion des § 198 Abs 5 S 1 GVG für kurz vor Abschluss stehende Verfahren. unangemessene Verfahrensdauer. Verzögerungsrüge. notwendiger Inhalt. ausdrückliches Verlangen der Beschleunigung. Auslegung von Erklärungen in Schriftsätzen. verspätete Verzögerungsrüge nach Ende des Verfahrens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Klageerhebung iSd § 198 Abs 5 S 1 GVG bedeutet im Bereich des SGG nach § 90 SGG die Klageeinreichung bei Gericht. Anders als im Zivilverfahren bedarf es für die Klageerhebung keiner Zustellung der Klageschrift.

2. § 94 S 2 SGG stellt eine Sonderregelung für den Eintritt der Rechtshängigkeit von Entschädigungsklagen nach §§ 198 ff GVG dar. Diese Regelung ändert jedoch nichts am für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Begriff der Klageerhebung nach § 90 SGG.

 

Orientierungssatz

1. Bei Entschädigungsklagen wegen überlanger Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens ist die Wartefrist nach § 198 Abs 5 S 1 GVG auch dann nicht eingehalten, wenn zum Zeitpunkt der Einreichung der Klageschrift bzw der Niederschrift der Klage durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle noch keine sechs Monate seit der Erhebung der Verzögerungsrüge vergangen sind.

2. Hieran ändert weder, dass in anderen Gerichtsbarkeiten die Klage erst mit Zustellung der Klageschrift als erhoben gilt (vgl 253 Abs 1 ZPO, zu diesem Aspekt siehe BFH vom 12.7.2017 - X K 3-7/16 = BFHE 259, 393 für den Bereich der FGO), noch die Regelung des § 94 S 2 SGG, welche nur eine Sonderregelung für den Eintritt der Rechtshängigkeit regelt.

3. Eine teleologische Reduktion des § 198 Abs 5 S 1 GVG für Fälle, in denen das Ausgangsverfahren bereits beendet ist (vgl BFH vom 9.6.2015, X K 11/14 = BFH/NV 2015, 1255 und BGH vom 21.5.2014 - III ZR 355/13 = NJW 2014, 2443), ist im Hinblick auf den Sinn der Wartefrist (dem Gericht des Ausgangsverfahrens die Möglichkeit einzuräumen, auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken und dadurch eine - weitere - Verzögerung zu vermeiden) nicht auf die Fälle zu erstrecken, die noch verhandelt werden (hier Erhebung der Entschädigungsklage durch Schriftsatz in der mündlichen Verhandlung vor Urteilsverkündung im Ausgangsverfahren).

4. Eine Verzögerungsrüge liegt nur vor, wenn der Kläger zum Ausdruck bringt, dass er mit der Dauer des Verfahrens nicht einverstanden ist und ausdrücklich eine Beschleunigung verlangt (hier verneint bei bloßen Äußerungen über die Verfahrensdauer in verschiedenen Schriftsätzen, ua ein Hinweis auf die Übersendung von Akten „vor mehr als zwei Jahren“).

5. Eine Verzögerungsrüge ist verfrüht erhoben und damit unwirksam, wenn das Berufungsverfahren zum Zeitpunkt der Rügeerhebung erst sechs Monate anhängig ist und aus dem Verfahren der ersten Instanz keine zu kompensierenden Zeiten der Überlänge (welche über einen Zeitraum von 12 Monaten hinausgehen) übrig geblieben sind.

6. Eine Verzögerungsrüge nach § 198 Abs 3 S 1 GVG muss während des laufenden Klageverfahrens erhoben werden, um ihren Zweck (Warnfunktion des Gerichts, Aufforderung zur Verfahrensbeschleunigung) erfüllen zu können.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 23.05.2019; Aktenzeichen B 10 ÜG 1/19 BH)

 

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt in diesem Verfahren eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des Verfahrens S 13 AS 3025/13 vor dem Sozialgericht München (SG) und L 7 AS 37/16 vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG).

Das zu Grunde liegende Klageverfahren begann mit Klageerhebung am 02.12.2013 (die Daten beziehen sich jeweils auf den Eingang bei Gericht) zum SG ("Widerspruch" gegen einen Änderungsbescheid vom 23.11.2013 für den Zeitraum Januar 2014).

Am 10.02.2014 wurde der Beklagte an die Übersendung der Klageerwiderung sowie der Akten erinnert und um Erledigung bis zum 11.03.2014 gebeten.

Am 11.04.2014 wurde der Beklagte nochmals an die Klageerwiderung und Aktenübersendung erinnert mit Fristsetzung bis 09.05.2014.

Am 26.05.2014 erfolgte die dritte Erinnerung mit Frist bis zum 16.06.2014.

Der Beklagte erwiderte am 02.06.2014, dass aus seiner Sicht keine Klageerhebung gewollt gewesen sei, sondern der Kläger lediglich den Widerspruch dem SG im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zur Kenntnis übersandt habe.

Das SG forderte daraufhin den Kläger am 11.06.2014 zu einer entsprechenden Stellungnahme auf mit einer Frist von 2 Wochen.

Der Kläger stellte am 25.06.2014 einen zusätzlichen Antrag zur Klage (Auskunft über die Kosten der Maßnahmen, an denen der Kläger in den letzten vier Jahren teilgenommen hat).

Der Beklagte reagierte hierauf mit Stellungnahme vom 21.07.2014.

Der Kläger wurde am 30.07.2014 bezüglich der Beantwortung des Schr...

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