Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Opferentschädigung. sexueller Missbrauch in der Kindheit. Beschädigtenversorgung. Vorverlagerung des Anspruchsbeginns vor Antragstellung. unverschuldete Verhinderung an der zeitnahen Stellung eines Antrags auf Opferentschädigungsleistungen nach § 60 Abs 1 S 3 BVG. Minderjährigkeit. keine Zurechnung des Verschuldens der gesetzlichen Vertreter bei Tatbeteiligung. Eintritt der sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit. Vergessenwollen der Übergriffe. zeitlich erst später aufgetretene posttraumatische Belastungsstörung. sozialgerichtliches Verfahren. bestimmter Klageantrag. Unzulässigkeit einer Klage auf "Opferentschädigung"

 

Leitsatz (amtlich)

1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnen auch bei Opfern von Gewalttaten die Leistungen der Beschädigtenversorgung im Grundsatz mit dem Antragsmonat, wenn die sonstigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Ausnahmsweise eröffnet § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG eine Rückwirkung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird.

2. Der Begriff der Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG knüpft unmittelbar an die Formulierung in § 1 BVG an, die auch in § 1 Abs. 1 OEG verwendet wird. Bei Heranziehung der in beiden Vorschriften grundsätzlich identisch geregelten dreigliedrigen Kausalitätskette ist mit dem Begriff Schädigung in § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG der sog. Primärschaden (2. Glied) gemeint, der in der Regel zeitlich eng mit dem Angriff verbunden ist. Der Zeitpunkt des Auftretens späterer Schädigungsfolgen ist für die Frage nach einer Vorverlegung der Beschädigtenversorgung unerheblich.

 

Orientierungssatz

1. Mit dem Eintritt der sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit kann das fehlende Verschulden an einer nicht zeitnahen Stellung des Antrags auf Opferentschädigungsleistungen nach § 60 Abs 1 S 3 BVG entfallen.

2. Ein Vergessenwollen ist nicht mit einer nicht willentlich steuerbaren Amnesie vergleichbar und stellt keine unverschuldete Verhinderung im Sinne des § 60 Abs 1 S 3 BVG dar.

3. Die Unkenntnis des eingetretenen Schadens (hier: in Bezug auf eine möglicherweise zeitlich erst später erkennbaren Schädigungsfolge in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung) schließt ein Verschulden im Sinne des § 60 Abs 1 S 3 BVG nicht aus (vgl LSG Neubrandenburg vom 10.5.2001 - L 3 VJ 30/00 = Breith 2002, 131).

4. Eine Zurechnung von Verschulden des gesetzlichen Vertreters für eine nicht zeitnahe Stellung des Antrags auf Opferentschädigungsleistungen scheidet ua in Fällen aus, in denen der gesetzliche Vertreter entweder zugleich der - bisher unentdeckte - Täter war oder er im Falle des Offenbarwerdens mit einem empfindlichen Ansehensverlust und einer Kriminalstrafe seines Angehörigen zu rechnen hat (vgl BSG vom 16.3.2016 - B 9 V 6/15 R = SozR 4-3100 § 60 Nr 7 RdNr 23).

5. Ein allgemein auf "Opferentschädigung" gerichteter Klageantrag ist nicht zulässig (vgl BSG vom 17.4.2013 - B 9 V 3/12 R).

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 09.10.2014 (Az. S 30 VG 6/13) wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte trägt 1/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten nach Abschluss eines Teilvergleichs noch über den Anspruchsbeginn für die der Klägerin zuerkannte Beschädigtenversorgung.

Die 1972 geborene Klägerin beantragte beim Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) am 21.09.2009 die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG). Als gesundheitliche Schädigungen gab sie eine Angst- und Panikstörung sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) an. Als schädigende Ereignisse nannte die Klägerin sexuellen Missbrauch in fortgesetzten Fällen zwischen ihrem dritten und neunten Lebensjahr durch ihren Vater in der elterlichen Wohnung sowie einen angenommenen Missbrauch mit 14 Jahren durch den Liebhaber ihrer Mutter. Auf die Frage, welche Zeugen sie benennen könne, gab die Klägerin an: "meine damalige Mitteilung an meine Mutter."

Das ZBFS gab eine versorgungsmedizinische Begutachtung durch M in Auftrag. Mit Gutachten vom 18.08.2010 führte die Sachverständige aus, die Klägerin habe berichtet, dass ihr Vater von Beruf Metzger gewesen sei. Die Eltern hätten sich scheiden lassen als sie neun Jahre alt gewesen sei. Danach sei sie zu ihrer Mutter gekommen. Beide Eltern hätten viel Alkohol getrunken. Der Vater habe die Mutter des Öfteren geschlagen.

Sie habe im Kindergarten und in der Schule von den schwierigen Verhältnissen und den Gewalttätigkeiten berichtet. Sie habe auch den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater angesprochen. Sie sei aber nicht ernst genommen worden, da der Vater aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Metzger und Betreiber von Festzelten eine angesehene Person gewesen sei.

Nach Abschluss einer Ausbildung zur Konditoreifachverkäuferin habe sie im Jahr 1...

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