Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. sexueller Missbrauch in der Kindheit. Stichtag des 15.5.1976. Berücksichtigung zuvor erfolgter Schädigungen. Härtefallregelung. Schwerbeschädigung allein infolge dieser Schädigung. GdS-Feststellung. Maßgeblichkeit der Funktionseinschränkungen. Bezeichnung der Diagnose irrelevant. Vorliegen einer PTBS nicht erforderlich. Nachweis eines Tatzeitpunkts vor dem Stichtag. Ausschluss der Möglichkeit eines vorherigen Tatzeitpunkts. "Sommer" im Mai
Leitsatz (amtlich)
1. Das Tatbestandsmerkmal von § 10a Abs 1 S 1 OEG "allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt" ist erfüllt, wenn sich die zu einer Schwerbeschädigung führende Schädigung bis zum Stichtag 15.5.1976 ereignet hat und diese für sich betrachtet einen GdS von mindestens 50 erreicht. Die Schädigung muss nicht ausschließliche Ursache für die vorliegenden Gesundheitsschäden sein. Es kommt nicht darauf an, ob diese Schädigung im Nachhinein durch weitere Schädigungen nach dem Stichtag überlagert und beeinflusst wird.
2. Die vor dem Stichtag erfolgten Schädigungen sind bzgl der Schädigungen ab 16.5.1976 nur dann als Mitverursachungsbeiträge - und nicht als Vorschäden - zu berücksichtigen, wenn alleine durch sie ein GdS von 50 ausgelöst worden ist.
3. Vorliegend kann offenbleiben, ob ein fortgesetzter sexueller Missbrauch durch ein- und dieselbe Person unter bestimmten Voraussetzungen als einheitliche Gewalttat anzusehen ist und nur dann unter die Beschränkungen des § 10a OEG fällt, wenn diese Gewalttat am 15.5.1976 bereits abgeschlossen gewesen ist.
Orientierungssatz
1. Für die Beurteilung des GdS ist nicht die Bezeichnung der Diagnose, sondern sind vielmehr die Funktionseinschränkungen ausschlaggebend. Beim Vorliegen entsprechender Funktionseinschränkungen kommt es deshalb nicht darauf an, ob die Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) unangreifbar ist.
2. Der Nachweis einer Schädigung vor dem Stichtag des 15.5.1976 ist nicht geführt, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die sich nach glaubwürdiger Schilderung "im Sommer" des Jahres 1976 ereignete Gewalttat aufgrund der sommerlichen Temperaturen am 8./9.5.1976 auch vor dem Stichtag stattgefunden haben könnte.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 3. August 2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Beschädigtenrente durch den Beklagten nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Verbindung mit dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) streitig.
Die 1963 geborene Klägerin, für die ein Grad der Behinderung von 90 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B und die Pflegestufe I festgestellt wurden, stellte am 14.02.2011 beim Beklagten unter Verweis auf eine Reihe von psychischen und neurologischen Störungen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG, da sie ca. 1976 Opfer eines Sexualdelikts geworden sei und da sie psychisch durch die Erziehung und durch Gewalterfahrungen geschädigt worden sei.
Hinsichtlich des Sexualdelikts gab die Klägerin im Antrag an, dass der "Sexualtäter" sie im Hausflur ihres Wohnhauses überwältigt und ihr ein Pornoheft ins Gesicht gedrückt sowie seine Hose geöffnet und gesagt habe: "Weißt du, was das ist?". Dabei habe er seinen Körper an sie gedrückt. Als er eine Türe gehört habe, habe er von der Klägerin abgelassen. Hinsichtlich der weiteren Schädigungstatbestände gab die Klägerin an, in ihrer Wohngegend habe sie viel Gewalt mitansehen müssen. Sie habe auch nicht mehr alleine aus dem Haus gehen dürfen und habe den Haushalt führen müssen; teilweise sei sie nicht zur Schule gegangen. Von ihrer - namentlich genannten - Klassenlehrerin sei sie teilweise grundlos geohrfeigt oder mit einem Bambusstock geschlagen worden etc. Auf dem Nachhauseweg sei sie des Öfteren von mehreren Jungen zusammengeschlagen worden. 1979 habe ihr ein Sozialkundelehrer eine feste Ohrfeige gegeben. Als weitere Gewalttaten schilderte die Klägerin schließlich einen Schlag des Lebensgefährten der Mutter, so dass die Klägerin zu Boden gefallen sei, worauf sie mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen sei (ca. 1975). Ca. 1978 seien zwei fremde Männer, Bekannte der Mutter, nach Hause gekommen und hätten die Klägerin zu küssen und sie an die Brust zu fassen versucht. Ähnliches schilderte die Klägerin von weiteren fremden Männern in den Jahren 1977 oder 1978. Ca. 1979 hätten ihre Mutter und ihr Stiefvater fünf fremde Männer mit nach Hause gebracht, bei denen es sich um Personen des sog. Zuhältermilieus gehandelt habe. Die Männer hätten versucht, der Klägerin Drogen und Alkohol zu geben, sie zu küssen und "zu betatschen". Schließlich hätten sie versucht, die Klägerin zur Prostituierten zu machen.
Im Verwaltungsverfahren erstattete die Dipl.-Psych....