Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Krankenversicherung: Anspruch auf Kostenerstattung. Beweismaßstab für den Zusammenhang zwischen rechtswidriger Leistungsablehnung und durch die Selbstbeschaffung entstandener Kostenlast (Parallelentscheidung zum Urteil LSG München, 7. September 2021, L 20 KR 286/19)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 SGB V erforderliche Zusammenhang von Systemversagen (hier: rechtswidrige Leistungsablehnung) und durch die Selbstbeschaffung entstandener Kostenlast des Versicherten ist im Vollbeweis nachzuweisen. Ein Anlass für eine Absenkung des Beweismaßstabs auf den der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit besteht nicht.

2. Eine Absenkung des Regelbeweismaßstabs des Vollbeweises auf den Beweismaßstab der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit bei Zusammenhangs-/Kausalitätsfragen kommt nur dann in Betracht, wenn die Beurteilung der Kausalitätsfrage von der Beantwortung naturwissenschaftlich-medizinischer Fragen mit den dabei enthaltenen, aufgrund der wesensimmanent begrenzten Erkenntnismöglichkeiten dieser Wissenschaften letztlich nicht endgültig aufklärbaren Unsicherheiten abhängt.

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten hin wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 19.01.2018 in Ziff. I, II und IV aufgehoben.

II. Die Klage gegen den Bescheid vom 14.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2015 und auf Kostenerstattung für die am 21.07.2015 durchgeführte Schlauchmagenoperation in Höhe von 9.443,84 € wird abgewiesen.

III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte der Klägerin die Kosten für eine bariatische Operation zu erstatten hat.

Die Klägerin und Berufungsbeklagte (im Folgenden: Klägerin) ist im Jahr 1990 geboren; sie ist bei der Beklagten und Berufungsklägerin (im Folgenden: Beklagte) krankenversichert.

Mit Schreiben vom 20.06.2015, bei der Beklagten eingegangen am 03.07.2015, beantragte die Klägerin zur Behandlung ihrer Adipositas (125 kg bei einer Körpergröße von 1,66 m) eine adipositaschirurgische Operation. Beigelegt waren dem Antrag

* ein Arztbrief des Leiters des Adipositaszentrums des Klinikums D-Stadt vom 03.07.2015 zu einer Untersuchung und Beratung der Klägerin am 25.06.2015 (Bei der Klägerin liege ein BMI von 46 kg/m² vor. Die konservativen Maßnahmen seien erschöpft. Es besteht die Indikation zur bariatrischen Operation. Mit der Klägerin seien ausführlich die verschiedenen operativen Verfahren besprochen worden; gemeinsam habe man sich für die Sleeve Gastrektomie (Schlauchmagenoperation) entschieden.),

* eine Patienteninformation des Klinikums D-Stadt zur Sleeve Gastrektomie, mit der handschriftlichen Anmerkung "T: 21.07.15",

* ein Attest des Allgemeinarztes H vom 31.05.2015, in dem dieser einen bariatrischen Eingriff empfahl, und

* ein Attest des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie W vom 23.06.2015, wonach die von der Klägerin angestrebte operative Behandlung mittels Magenbands aus psychiatrischer Sicht aufgrund des Leidensdrucks durchaus gerechtfertigt sei.

Der von der Beklagten befragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK) sah die Voraussetzungen für eine Schlauchmagenoperation zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung als nicht gegeben an, weil ein multimodales Therapiekonzept nicht durchgeführt worden sei.

Mit Bescheid vom 14.07.2015 lehnte die Beklagte, gestützt auf die Stellungnahme des MDK, den Antrag der Klägerin ab.

Dagegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 30.07.2015 Widerspruch, gestützt auf eine Stellungnahme des Leiters des Adipositaszentrums des Klinikums D-Stadt vom 25.07.2015, wonach eine multimodale Intervention keine Aussicht auf Erfolg habe.

Nach erneuter Befassung des MDK wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.11.2015 den Widerspruch zurück.

Am 03.12.2015 hat die Klägerin durch ihre Bevollmächtigten Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg erhoben.

Zur Begründung der Klage wurde mit anwaltlichem Schriftsatz vom 08.01.2016 vorgetragen, dass die Schlauchmagenoperation die medizinisch letzte Möglichkeit (ultima ratio) darstelle, um die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin zu beseitigen, und es bei einem BMI von 53 kg/m² medizinisch praktisch unmöglich sei, allein durch konservative Maßnahmen eine ausreichend große Gewichtsreduktion zu erreichen.

Das SG hat beim Klinikum D-Stadt die Patientenakte der Klägerin angefordert. Der darin enthaltene Behandlungsvertrag über die Schlauchmagenoperation ist auf den 20.07.2015 datiert.

Nach gerichtlicher Aufforderung haben die Bevollmächtigten der Klägerin mit Schriftsatz vom 12.04.2016 die Rechnung des Klinikums D-Stadt vom 04.08.2015 über den stationären Aufenthalt vom 20. bis 25.07.2015 mit Schlauchmagenoperation (Rechnungsbetrag: 9.443,84 €; Anzahlung in Höhe des Rechnungsbetrags am 08.07.2015) sowie den zugehörigen Überweisungsauftrag vom 07.07.2015 samt Kontoauszug übersandt.

Mit Schri...

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