Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Krankenversicherung: Anspruch auf Kostenerstattung. Beweismaßstab für den Zusammenhang zwischen Unaufschiebbarkeit und durch die Selbstbeschaffung entstandener Kostenlast (Parallelentscheidung zum Urteil LSG München, 7. September 2021, L 20 KR 256/18)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 1 SGB V erforderliche Zusammenhang von Systemversagen (hier: Unaufschiebbarkeit) und der durch die Selbstbeschaffung entstandenen Kostenlast des Versicherten ist im Vollbeweis nachzuweisen. Ein Anlass für eine Absenkung des Beweismaßstabs auf den der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit besteht nicht.

2. Eine Absenkung des Regelbeweismaßstabs des Vollbeweises auf den Beweismaßstab der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit bei Zusammenhangs-/Kausalitätsfragen kommt nur dann in Betracht, wenn die Beurteilung der Kausalitätsfrage von der Beantwortung naturwissenschaftlich-medizinischer Fragen mit den darin enthaltenen, aufgrund der wesensimmanent begrenzten Erkenntnismöglichkeiten dieser Wissenschaften letztlich nicht endgültig aufklärbaren Unsicherheiten abhängt.

3. Eine Notfallbehandlung i.S.d. § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V schließt einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V aus.

4. Allein die Äußerung von Bedenken gegen die Unparteilichkeit eines Richters und das bloße Kokettieren mit Befangenheitsgründen stellt keinen Befangenheitsantrag dar.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 11.05.2023; Aktenzeichen B 1 KR 95/21 B)

BSG (Beschluss vom 02.05.2023; Aktenzeichen B 10 ÜG 20/22 BH)

 

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.02.2019 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte der Klägerin die Kosten einer selbstbeschafften Operation in einer Privatklinik zu erstatten hat.

Die Klägerin ist im Jahr 1997 geboren. Sie ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.

Am 01.03.2017 wurde die Klägerin erstmals wegen einer Pilonidalzyste (andere Bezeichnung: Steißbeinfistel) mit Abszess operiert. Die Operation fand im Krankenhaus L der Krankenhäuser D GmbH nach der Methode Karydakis statt. Am 18.05.2017 erfolgte aufgrund eines Rezidivs eine zweite Operation im selben Krankenhaus.

Wegen erneuter Beschwerden suchte die Klägerin am 13.07.2017 die W Klinik auf. Diese Privatklinik wirbt u.a. damit, dass sie mit mikrochirurgischer Lasertechnik Steißbeinfisteln im Vergleich zu herkömmlichen Behandlungsmethoden schonend entfernt, der Heilungsverlauf beschleunigt sei und die Gefahr von Rezidiven geringer sei (https://www.wklinik.de/service/steisbeinfisteln-behandlung/). Unter dem Datum des Untersuchungstags (13.07.2017) wurde der Klägerin ein Arztbrief "zur Vorlage bei der Krankenkasse" mitgegeben, in dem Folgendes ausgeführt wurde:

"Bei der Erstuntersuchung konnte Folgendes festgestellt werden:

Diagnose: Drittes Rezidiv einer Steißbeinerkrankung mit einer Raumdehnung und einem breiten Tunnel und vermuteten schwersten D Vitamin Mangel

Reaktion auf Narkosemittel

Beabsichtigte Therapie:

Wir raten zu einem operativen Eingriff.

Die operative Behandlung erfolgt stationär für 3 Tage.

Wir erbitten die Kostenzusage für die stationäre Behandlung aufgrund der o.g. festgestellten Diagnose nach ICD L05.0, T81.3"

Ein Eingang dieses Arztbriefs bei der Beklagten ist am Folgetag festgehalten.

Mit Bescheid vom 03.08.2017 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab. Die Laserbehandlung sei eine neue Behandlungsmethode, die bisher noch nicht bewertet worden sei. An den Kosten der stationären Behandlung in der W Klinik könne sich die Beklagte nicht beteiligen, da die Klinik kein Vertragskrankenhaus sei. Weiter wurden der Klägerin drei Kliniken als Vertragseinrichtungen benannt, die für die Behandlung der Erkrankung der Klägerin zur Verfügung stünden.

Am 05.08.2017 legte die Klägerin durch ihren Vater Widerspruch ein. Der Widerspruch wurde damit begründet, dass die Klägerin bereits zweimal im Krankenhaus L im März und Mai 2017 mit der Operationsmethode nach Karydakis operiert worden sei, die Operationen aber erfolglos verlaufen seien. In ihrer Not habe sich die Klägerin nach dem zweiten Rezidiv an eine Spezialklinik gewandt, die Erfahrung mit dieser Erkrankung habe. Dem dem Widerspruch beigefügten Operationsbericht der W Klinik ist zu entnehmen, dass die Klägerin bereits am 17.07.2017 operiert worden war; bei der Operation seien - so der Operationsbericht - "Massen an matschigem Gewebe und riesige Mengen an Eiter" herausgenommen worden; die Klägerin habe an der Schwelle zur Blutvergiftung gestanden. Beigelegt waren zudem Rechnungen der W Klinik zum stationären Aufenthalt der Klägerin vom 17.07.2017 bis zum 21.07.2017 über 4.318,15 €, des Operateurs Dr. D. über 1.286,12 €, des Anästhesisten über 400,- € und für eine histologische Untersuchung in Höhe von 60,01 €. Es werde gebeten, diese Kosten zu übernehmen bzw. sich daran zu bet...

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