Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Wegfall der Schwerbehinderteneigenschaft. Berücksichtigung von Änderungen in den gesundheitlichen Verhältnissen im Laufe des gerichtlichen Verfahrens
Leitsatz (amtlich)
Bei Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) auf weniger als 50 bzw. Wegfall der Schwerbehinderteneigenschaft beurteilt sich die Frage, ob dies rechtmäßig gewesen ist, nicht nach dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, sondern nach dem Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (= Erlass des Widerspruchsbescheides).
Etwaige zwischenzeitliche Änderungen in den gesundheitlichen Verhältnissen des/der (Schwer-)Behinderung im Laufe des gerichtlichen Verfahrens sind grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (Bestätigung von BSG, 15. August 1996, 9 RVs 10/94).
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 10. Mai 2016 und der Bescheid vom 12. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 2015 insoweit teilweise aufgehoben und abgeändert, als bei dem Kläger mit Wirkung ab 29. Mai 2015 ein Grad der Behinderung von 40 festzustellen ist.
II. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen
III. Der Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 1960 geborene Kläger wendet sich gegen den Wegfall der Schwerbehinderteneigenschaft im Sinne von §§ 2 Abs. 2, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).
Auf den Erstantrag vom 26.04.2010 hat der Beklagte mit Bescheid vom 20.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2011 einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 unter Berücksichtigung nachstehender Gesundheitsstörungen festgestellt: Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, operierter Bandscheibenschaden (Einzel-GdB 20); psychovegetative Störungen, Somatisierungsneigung (Einzel-GdB 20).
Die hiergegen zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhobene Klage, die unter dem Geschäftszeichen S 17 SB 104/11 eingetragen worden ist, ist insoweit erfolgreich gewesen, als der Beklagte in Ausführung des angenommenen Vergleichsangebotes mit Bescheid vom 18.02.2013 mit Wirkung ab 03.09.2012 einen GdB von 50 unter Berücksichtigung nunmehr vorliegender Gesundheitsstörungen festgestellt hat: Seelische Störung mit Somatisierung und chronischem Schmerzsyndrom (Einzel-GdB 40); Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, operierter Bandscheibenschaden (Einzel-GdB 20). Grundlage hierfür sind vor allem das nervenärztliche Rentengutachten des Dr. R. vom 14.06.2011, das fachorthopädische Gutachten des Dr. Sch. vom 19.12.2011 und das neurologische Fachgutachten des Dr. D. vom 09.05.2012 gewesen. Dr. D. hat eine Verschlechterung der Depressionserkrankung, aktuell mit einer schweren depressiven Episode und latenter Suizidalität beschrieben. Zum Zeitpunkt der Untersuchung ist der Kläger selbst nicht mehr in der Lage gewesen, seinen Zustand zu erfassen und Schritte zur Besserung des Zustandes zu unternehmen. Die erheblichen Folgen des am 14.04.2010 notfallmäßig operierten Bandscheibenvorfalles (u. a. Blasenstörung) hätten sich zwischenzeitlich gebessert.
Der Neufeststellungsantrag vom 14.03.2013 ist mit Bescheid vom 06.05.2013 abgelehnt worden. Ein GdB von 50 sei weiterhin befundangemessen. Der Kläger sei weder erheblich noch außergewöhnlich gehbehindert. Merkzeichen stünden nicht zu.
Im Widerspruchsverfahren hat Dr. B. mit Befundbericht vom 11.04.2013 darauf hingewiesen, dass bei dem Kläger weiterhin eine rezidivierende depressive Störung bestehe, deren Prognose sehr unklar erscheine. Darüber hinaus bestehe ein chronisches Schmerzsyndrom mit neuropathischen Beschwerden im Bereich des linken Beines. Hierauf gestützt hat der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 06.05.2013 mit Widerspruchsbescheid vom 18.07.2013 zurückgewiesen. Der Beklagte hat unverändert folgende Gesundheitsstörungen zugrunde gelegt: Seelische Störung mit Somatisierung und chronischem Schmerzsyndrom (Einzel-GdB 40); Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, operierter Bandscheibenschaden (Einzel-GdB 20).
Der Beklagte hat im September 2014 ein Nachprüfungsverfahren eingeleitet. Der Internist Dr. E. hat mit Befundbericht vom 27.10.2014 mitgeteilt, dass sich das Krankheitsbild in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert habe. Der Kläger habe einen dramatischen Leidensdruck und sei wohl nicht mehr in der Lage, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Beigefügt gewesen ist der Arztbrief des Facharztes für Nervenheilkunde Dr. B. vom 22.02.2013, der nunmehr eine mittelgradige depressive Episode bei einer rezidivierenden depressiven Störung beschrieben hat.
Der Versorgungsärztliche Dienst des Beklagten (Facharzt für Psychiatrie Dr. Sch.) hat mit Stellungnahme vom 19.11.2014 darauf hingewiesen, dass bei dem Hausarzt nur noch eine gelegentliche Behandlung erforderlich sei. Eine fachärztliche Behandlung finde nicht mehr statt....