Entscheidungsstichwort (Thema)

Kurzarbeitergeldanspruch. Homeoffice- und Außendienstmitarbeiter eines ausländischen Unternehmens ohne inländischen Betriebssitz. Fehlen der betrieblichen Voraussetzungen. Anzeigepflicht des Arbeitsausfalls. Betriebsabteilung. Territorialitätsprinzip. Verfassungsmäßigkeit. Europarechtskonformität

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zu den betrieblichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Kurzarbeitergeld gehört auch der inländische Sitz eines Betriebes oder einer Betriebsabteilung des Unternehmens, in dem die anspruchsberechtigten Arbeitnehmer beschäftigt sind. Dies folgt aus § 99 Abs 1 S 1 SGB III, der einen solchen Sitz voraussetzt, sowie aus dem Territorialitätsgrundsatz (§ 30 Abs 1 SGB I).

2. Die so verstandene Regelung des § 99 Abs 1 S 1 SGB III verstößt weder gegen nationales Verfassungsrecht noch gegen europäisches Gemeinschaftsrecht.

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.11.2021 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung von Kurzarbeitergeld (Kug) nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) für drei Arbeitnehmer der Klägerin für die Zeit vom 01.04.2020 bis zum 31.08.2020.

Die Klägerin ist ein als société anonyme (S.A.) nach französischem Recht organisiertes, auf dem Gebiet des Präzisionsdrehens von Stahl und Metallen tätiges Unternehmen mit Sitz in Frankreich / Département H. Bei ihr sind drei Mitarbeiter mit Wohnsitzen in Deutschland beschäftigt, für die Beiträge zur deutschen Sozialversicherung abgeführt werden. M (M) ist ausweislich des im Verfahren vorgelegten Organigramms sowie des Arbeitsvertrages vom 21.06.2010 als "Sales Director Europe" eingesetzt, E (E) und D (D) als "Sales Account Manager", ausweislich der Arbeitsverträge vom 25.11.2011 bzw. 13.07.2012 beide ebenfalls für den europäischen Sektor. Die Arbeitsverträge regeln, dass die Mitarbeiter ihre Aktivitäten hauptsächlich in Deutschland, Frankreich und Polen zu entfalten haben und dass sich die Klägerin das Recht vorbehält, sie auch in anderen Ländern einzusetzen. Allein im Arbeitsvertrag des E ist die Arbeit aus einem Homeoffice sowie die Möglichkeit einer Versetzung geregelt, sollte die Klägerin zukünftig eine Niederlassung ("office") in Deutschland eröffnen.

Mit Schreiben vom 15.04.2020 zeigte die Klägerin bei der Agentur für Arbeit S (AA) Arbeitsausfall für den Zeitraum von April bis September 2020 für die Betriebsabteilung "Vertrieb Deutschland" mit drei Mitarbeitern an. Bei Vollarbeit betrage die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit 40 Stunden, die während der Kurzarbeit auf 0 Stunden reduziert werde. Wegen der Ausgangsbeschränkungen durch die Corona-Pandemie seien Kundenbesuche nicht möglich. Das Unternehmen in Frankreich habe für alle Mitarbeiter Kurzarbeit eingeführt. Branchen- oder betriebsübliche bzw. saisonbedingte Ursachen seien nicht maßgeblich. Ein Betriebsrat sei nicht vorhanden. Hierzu legte sie Vereinbarungen zur Einführung von Kurzarbeit mit den drei Arbeitnehmern mit Wohnsitz in Deutschland vor. Danach kann Kurzarbeit mit einer Ankündigungsfrist von drei Arbeitstagen gegenüber dem Arbeitnehmer unter der Bedingung angeordnet werden, dass die Voraussetzungen nach §§ 95 ff. SGB III für die Gewährung von Kurzarbeitergeld erfüllt sind. Schließlich stellte sie Leistungsanträge für April 2020 mit Schreiben vom 21.04.2020, für Mai 2020 mit Schreiben vom 20.05.2020 und 24.06.2020, für Juni 2020 mit Schreiben vom 24.06.2020, für Juli 2020 mit Schreiben vom 06.08.2020 und für August 2020 mit Schreiben vom 01.09.2020, über die die Beklagte noch nicht entschieden hat.

Bereits mit Bescheid vom 22.04.2020 lehnte die AA die Anerkennung der betrieblichen Voraussetzungen ab. Die Gewährung von Kug sei nur an Arbeitnehmer in Betrieben möglich, die ihren Betriebssitz im Geltungsbereich des SGB III hätten. Mitarbeiter ausländischer Firmen, die in Deutschland keinen Betrieb unterhielten, hätten keinen Anspruch auf Kug, selbst wenn sie nach deutschem Recht sozialversicherungspflichtig seien. Den dagegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 03.09.2020 als unbegründet zurück. Es liege kein Betriebssitz in Deutschland vor, sondern lediglich eine Betriebsstätte im Sinne einer unselbstständigen Niederlassung. Es bestünden keine Befugnisse hinsichtlich Arbeitgeberfunktionen im Inland; die Leitung liege bei der Klägerin. Die Betriebsstätte in Deutschland habe keine eigene Betriebsnummer, ein Eintrag im Handelsregister sei nicht erkennbar. Nachdem der Betrieb und nicht der einzelne Arbeitnehmer antragsberechtigt sei, hätten Homeoffice- und Außendienstmitarbeiter ausländischer Firmen, die in Deutschland keinen Betrieb unterhielten, trotz Sozialversicherungspflicht keinen Anspruch auf Kug. Auch aus dem Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (...

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