Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. tätlicher Angriff. sexueller Missbrauch ohne Gewalt. Unterscheidung zwischen kindlichen und erwachsenen Missbrauchsopfern. Ausnutzung einer seelsorgerischen Notsituation durch einen Kaplan. sexueller Übergriff gegen den Willen des Opfers. psychisch hervorgerufene Zwangslage nicht ausreichend

 

Orientierungssatz

1. Ein ohne Anwendung von Gewalt herbeigeführter sexueller Missbrauch erfüllt nur bei Kindern den Tatbestand des § 1 OEG.

2. Bei Erwachsenen fehlt es selbst dann an einem tätlichen Angriff im Sinne von § 1 OEG, wenn sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers nicht durch den Einsatz körperlicher Gewalt, sondern aufgrund einer psychisch hervorgerufenen Zwangslage durchgeführt werden (vgl LSG Hamburg vom 17.12.2019 - L 3 VE 1/14).

3. Zur Glaubhaftmachung eines Gewaltmoments im Falle der Fixierung einer Hand.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 21.12.2021; Aktenzeichen B 9 V 34/21 B)

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 26. November 2020 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) i.V.m. dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) streitig.

Der 1972 geborene Kläger stellte am 09.10.2016 beim Beklagten Antrag auf Leistungen für Gewaltopfer aufgrund sexuellen Missbrauchs durch den damaligen Kaplan R, den Zeugen, im Sommer 1997 in M. Der Zeuge habe ihn zu sexuellen Handlungen während eines Beichtgesprächs genötigt. Der Kläger machte im Antragsformular geltend, an Traumatisierung, Depression, Paranoia, Sozialphobie, Zwangsstörung, chronischem psycho-somatischen Asthma und Suizidalität zu leiden. Dem Antrag war E-Mail-Verkehr des Klägers mit dem Zeugen, insbesondere dessen E-Mail vom 23.04.2015 beigefügt, in der Folgendes ausgeführt wird:

„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich bei mir melden. Auch ich leide darunter und es tut mir von Herzen leid, Ihnen das angetan zu haben. (..). Gerne würde ich in irgendeiner Weise wiedergutmachen können, was ich angerichtet habe. Nein, mir war damals nicht bewusst, dass ich meine Rolle als Priester verdrängt habe und meine eigenen Bedürfnisse im Vordergrund standen. Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie Anzeige erstatten und was Sie von mir fordern“. Der Kläger hatte den Zeugen einen Tag zuvor darauf hingewiesen, ihn im Sommer 1987 während eines seelsorgerischen Gesprächs in Ausnützung seiner Hilfesituation zu sexuellen Handlungen veranlasst zu haben. In einer weiteren E-Mail vom 23.04.2015 teilte der Zeuge dem Kläger mit, er werde sich an den Therapiekosten beteiligen o.ä. und sei zu allem bereit, was die Situation des Klägers verbessere. Er stehe tief in der Schuld des Klägers.

Im Rahmen der Vernehmung bei der Kriminalpolizei K gab der Kläger an, dass der Vorfall im Sommer 1997 passiert sei. Es sei ein Tag unter der Woche gewesen, als er zwischen 19.30 und 20.30 Uhr den Zeugen angerufen habe, weil er einen Rat von diesem gebraucht habe. Der Zeuge habe in der Kaplanei in der Straße „J“ gewohnt. Bei der Wohnung habe es sich um ein Appartement gehandelt, um einen Raum, in dem gekocht, gegessen und geschlafen worden sei. Sodann beschrieb der Kläger im Einzelnen den Ablauf der Tat und machte dabei deutlich, dass diese gegen seinen Willen und unter Einsatz von Gewalt erfolgt sei.

Den sexuellen Übergriff hatte das Bischöfliche Ordinariat M bei der zuständigen Staatsanwaltschaft M mit Schreiben vom 24.08.2016 angezeigt. Die Kirche sei verpflichtet, so das Ordinariat, jede Äußerung über sexuelle Übergriffe zur Kenntnis zu geben, auch wenn sich aus dem Vorbringen keine Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Geschehen ergäben.

In einer Stellungnahme des beschuldigten Zeugen gegenüber der Rechtsabteilung des Bischöflichen Ordinariats M vom 24.08.2016 hatte dieser darauf hingewiesen, 1997 bereits in G gewesen zu sein. In G habe ihn der Kläger zwar einmal besucht und im Gästezimmer übernachtet. Es sei aber zu keinen sexuellen Handlungen gekommen. Auf den vom Kläger genannten Vorfall bezogen hatte der Zeuge angegeben, dass der Kläger zum Gespräch in seine Wohnung gekommen sei. Nach dem Gespräch habe sich der Kläger auf die Einladung des Zeugen mit Letzterem auf dessen Bett gelegt. Dabei sei es zu sexuellen Handlungen am Kläger gekommen. Der Kläger sei bis zum nächsten Morgen geblieben und beide hätten in einem Bett geschlafen. Auf die Frage, ob die sexuellen Handlungen einvernehmlich gewesen seien, antwortete der Zeuge, aus seiner Perspektive ja. Er habe keine Anzeichen dafür gehabt, dass der Kläger keine sexuellen Handlungen gewollt habe. Natürlich übernehme er die volle Verantwortung.

Mit Schreiben vom 27.07.2017 nahm der vom Zeugen beauftragte Rechtsanwalt gegenüber der Staatsanwaltschaft zu dem Vorgang Stellung und bezeichnete die Schilderungen des Klägers zum angeblichen Übergriff als völlig unglaubhaft. R...

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