Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. Home Office. keine Begrenzung auf unmittelbaren Arbeitsbereich. Temperaturregelung im Heizungskeller. Verpuffung im Heizkessel. sachlicher Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit. gemischte Handlungstendenz. Beheizen auch der privaten Räume. Verneinung der Unfallkausalität. wesentliche Bedingung. tatbestandsspezifischer Schutzzweck. eingebrachte Gefahr der eigenen privaten Häuslichkeit. keine präventive Einwirkungsmöglichkeit der Unfallversicherungsträger. sozialgerichtliches Verfahren. Zurückweisung von Beweismitteln wegen Verspätung. keine pauschale Fristsetzung nach § 106a SGG für alle Beweismittel. Anforderungen an die bestimmte Bezeichnung von erläuterungsbedürftigen Punkten. geringer Aufwand einer Amtsermittlung bei bekannten haushaltsangehörigen Zeugen. Zustimmungsbedürftigkeit des Verzichts auf Zeugnisverweigerungsrecht bei Kindern. ausreichende geistige Reife
Leitsatz (amtlich)
1. Bei einem häuslichen Arbeitsplatz beschränkt sich der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht auf den Bereich des Hauses, der unmittelbar der Ausübung der versicherten Tätigkeit dient.
2. Ein Arbeitsunfall liegt mangels Unfallkausalität nicht vor, wenn sich im rein persönlichen Wohnbereich des Versicherten ein Unfall ereignet, dessen wesentliche Ursache eine spezifische Gefahr der eigenen Häuslichkeit ist.
3. Eine Fristsetzung nach § 106a Abs 2 SGG kann nur dann Wirkung zeitigen, wenn die von dem Tatrichter für aufklärungs- oder beweisbedürftig erachteten Punkte so genau bezeichnet werden, dass es dem Beteiligten möglich ist, die Anordnung ohne weiteres zu befolgen. Die pauschale, den gesamten Streitgegenstand betreffende Aufforderung zur Benennung von Beweismitteln betreffend das gesamte Unfallereignis genügt dem nicht.
Orientierungssatz
1. Ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Hochdrehen der Heizung im Heizungskeller und der versicherten Tätigkeit im Home Office entfällt nicht allein dadurch, dass die Verrichtung zugleich aus der privaten Motivation heraus vorgenommen wurde, auch die privat genutzten Räume des Hauses zu beheizen.
2. Das Gericht kann mit geringem Aufwand den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung des Beteiligten selbst ermitteln (vgl § 106a Abs 3 S 3 SGG), soweit es lediglich um die Vernehmung bekannter haushaltsangehöriger Zeugen geht.
3. Der Verzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 383 Abs 1 Nr 3 ZPO durch einen minderjährigen Zeugen ist auch ohne Zustimmung eines gesetzlichen Vertreters wirksam, wenn der Zeuge die zum Verständnis seines Zeugnisverweigerungsrechts erforderliche geistige Reife besitzt (hier bejaht für Kinder im Alter von 11 bis 16 Jahren).
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 4. Oktober 2018 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger am 23.4.2015 einen versicherten Arbeitsunfall erlitten hat.
Der 1967 geborene Kläger war seit 1.8.2011 als selbständiger Busunternehmer und Chauffeur (Firma A und C) bei der Beklagten pflichtversichert. Zum Unfallzeitpunkt wohnte der alleinerziehende Kläger zusammen mit seinen beiden Söhnen, den Zeugen P und M A, in einem Doppelhaus, dessen Unter- und Obergeschoss er privat nutzte. Das Wohnzimmer im Erdgeschoss war u.a. mit einem Schreibtisch, einer Sitzgruppe, einem Sekretär sowie einem Aktenregal möbliert und wurde zugleich als Geschäftsraum zum Empfang von Kunden bzw. als häusliche Arbeitsstätte ("Home-Office") genutzt. Von der Diele führte eine Treppe in das Kellergeschoss, wo sich ein Heizungsraum befand.
Am Unfalltag holte der Kläger gegen 13:00 Uhr seine beiden Söhne von der Grundschule ab. Nach Ankunft am Wohnhaus ging der Kläger gegen 13.30 Uhr in den Heizungsraum, um die Kesselanlage zu überprüfen. Beim Hochdrehen des Temperaturschalters von 56 auf 60° kam es aufgrund eines Defekts der Heizungsanlage zu einer Verpuffung im Heizkessel, in deren Folge die Zugluftklappe der Kaminwand heraussprang und den Kläger im Gesicht traf. Dabei erlitt dieser u.a. eine Cataracta traumatica, einen Glaskörperprolaps sowie Affektionen der Iris und des Ziliarkörpers am rechten Auge.
In der Unfallanzeige vom 15.2.2016 gab der Kläger an, dass es zu der Verpuffung während der Bürozeit gekommen sei. Er habe gegen 13:30 Uhr am Schreibtisch sitzend eine Abkühlung seines Büros festgestellt, weshalb er in den Heizungsraum gegangen sei.
Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Ereignisses vom 23.4.2015 als Arbeitsunfall ab. Die Verrichtung des Klägers zum Unfallzeitpunkt habe in keinem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden. Durch Verlassen seines Büros habe er seine betriebliche Tätigkeit unterbrochen und seinen persönlichen Lebensbereich erreicht. Die Bedienung der Heizungsanlage habe nicht wesentlich betrieblichen Zwecken, sondern überwiegend dem privaten...