Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende: Anforderungen an einen Versagungsbescheid wegen fehlender Mitwirkung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Versagung auf Dauer ist von § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I nicht gedeckt. Ein Versagungsbescheid muss zum Ausdruck bringen, dass die Leistung nur bis zur Nachholung der Mitwirkung versagt wird. Ein Hinweis am Ende des Bescheides, dass bei einer Nachholung der Mitwirkung und Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen geprüft werde, ob die Leistungen nachträglich ganz oder teilweise erbracht werden können und in diesem Fall die Entscheidung nochmals überprüft werde, ist nicht ausreichend, um den Endzeitpunkt der Versagung festzusetzen.

2. Eine Versagungsentscheidung ist nur rechtmäßig, wenn der Leistungsträger sein Entscheidungs- und Auswahlermessen betätigt, dabei die Grenzen des Ermessensspielraums eingehalten und seine Entscheidung hinreichend begründet hat.

3. Die Ermessensentscheidung muss sich auch auf den Umfang der Versagung erstrecken. Wenn eine Leistung ganz versagt wird, ohne dass hierzu Ermessenserwägungen angestellt werden, liegt hinsichtlich des Umfangs der Versagung Ermessensnichtgebrauch vor.

4. Die vollständige Entziehung der Regelleistung nach dem SGB II bedarf einer besonderen Begründung, insbesondere wenn es um die Frage geht, welchem Leistungssystem (SGB II oder SGB XII) der Leistungsberechtigte zuzuordnen ist.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 21.03.2024; Aktenzeichen B 7 AS 31/24 BH)

 

Tenor

I. Auf die Berufung werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 28. Juli 2022 und der Bescheid des Beklagten vom 25.05.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2021 aufgehoben.

II. Die Feststellungsklage wird abgewiesen.

III. Der Beklagte trägt 3/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 01.05.2021 bis 31.10.2021 streitig.

Die 1963 geborene Klägerin ist österreichische Staatsangehörige. Sie ist im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis des Kreisverwaltungsreferats (KVR) München vom 22.09.2000 und bezieht nach ihrem Umzug von R nach A seit Juli 2015 mit Unterbrechungen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten, zuletzt überwiegend aufgrund von Beschlüssen des Sozialgerichts Augsburg bzw. des Bayerischen Landessozialgerichts im Rahmen von einstweiligen Rechtsschutzverfahren.

Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 16.04.2021 beim Beklagten die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab Mai 2021.

Der Beklagte wies die Klägerin mit Schreiben vom 06.05.2021 darauf hin, dass ihre Erwerbsfähigkeit abzuklären sei. Es würden das Informationsblatt zur Vorstellung beim Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit, die Schweigepflichtentbindungserklärung sowie ein Gesundheitsfragebogen übermittelt. Die Klägerin werde aufgefordert, den Gesundheitsfragebogen sowie die Schweigepflichtentbindungserklärung bis spätestens 23.05.2021 an den Ärztlichen Dienst zu übersenden. Das mit "Aufforderung zur Mitwirkung" überschriebene Schreiben enthielt den Hinweis, dass Geldleistungen bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz versagt werden könnten, wenn die Klägerin bis zum genannten Termin nicht reagiert oder die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht habe. Die Klägerin reagierte hierauf mit Schreiben vom 10.05.2021 und fragte nach, in welchem kausalen Zusammenhang das Schreiben vom 06.05.2021 zu ihrem Antrag stehe. Die erbetenen Unterlagen legte sie nicht vor.

Mit Bescheid vom 25.05.2021 versagte der Beklagte die Gewährung von Leistungen ab 01.05.2021 ganz. Die Klägerin sei am 06.05.2021 aufgefordert worden, fehlende Unterlagen einzureichen, um ihre Erwerbsfähigkeit zu klären. Sie sei ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen, da sie den ausgefüllten Gesundheitsfragebogen und die unterschriebenen Schweigepflichtentbindungserklärungen nicht vorgelegt habe. Deshalb könne die Hilfebedürftigkeit nicht geprüft werden. Von dem eingeräumten Ermessen sei Gebrauch gemacht worden. Dabei sei das Interesse der Klägerin an der beantragten Leistung mit der Verpflichtung des Beklagten zur wirtschaftlichen und sparsamen Mittelverwendung sorgfältig abgewogen worden. Hierzu gehöre auch, im Interesse der Gemeinschaft der Steuerzahler nur bei nachgewiesener Hilfsbedürftigkeit und in rechtmäßiger Höhe Leistungen zu erbringen. Es seien keine Ermessensgesichtspunkte erkennbar oder vorgetragen, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu Gunsten der Klägerin berücksichtigt werden könnten.

Den Widerspruch der Klägerin hiergegen wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.07.2021 zurück. Die Klägerin sei trotz Aufforderung ihrer Mitwirkungsverpflichtung nicht nachgekommen. SGB II-Leistungen könnten nur bei nachgewiesener Hilfebedürftigkeit erbracht werden. Aufgrund dessen seien die Leis...

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