Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Avastin zur Behandlung eines bösartigen Hirntumors. grundrechtsorientierte Auslegung nach dem Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005. Wahrscheinlichkeit des Eintritts behaupteter Behandlungserfolge. Zeitpunkt der Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Behandlung mit einem nicht zugelassenen Medikament
Leitsatz (amtlich)
Kostenfreistellungsanspruch einer Witwe für Behandlungen ihres während der Berufung verstorbenen tumorerkrankten Ehegatten im Einzelfall ohne Breitenwirkung.
Orientierungssatz
1. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der zu verlangen ist, um davon ausgehen zu dürfen, dass behauptete Behandlungserfolge mit hinreichender Sicherheit dem Einsatz gerade der streitigen Behandlung zugerechnet werden können und das einzugehende Risiko vertretbar ist, unterliegt Abstufungen je nach der Schwere und dem Stadium der Erkrankung. Dabei sind Differenzierungen im Sinne abgestufter Evidenzgrade nach dem Grundsatz vorzunehmen "je schwerwiegender die Erkrankung und hoffnungsloser die Situation, desto geringer die Anforderungen an die ernsthaften Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Behandlungserfolg" (vgl BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R = BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4).
2. Bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Behandlung mit einem nicht zugelassenen Medikament kommt es auf den Zeitpunkt der Behandlung an. Daher sind spätere Studienergebnisse bei der rechtlichen Beurteilung hier nicht heranzuziehen (vgl BSG vom 30.6.2009 - B 1 KR 5/09 R = SozR 4-2500 § 31 Nr 15).
3. Zu Leitsatz vgl BVerfG vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 = BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 11. März 2014 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Kostenfreistellung für ein Therapieintervall von sechs Behandlungen ihres zwischenzeitlich verstorbenen Ehegatten mit dem Medikament Avastin in der Zeit vom 24.06. bis 02.09.2013.
Der Ehegatte der Klägerin, der Versicherte R., geboren 1958, litt an einem bösartigen Hirntumor (Glioblastom multiforme, WHO-Grad IV). Am 14.06.2009 wurde zunächst der Tumor operativ entfernt, anschließend wurde der Versicherte mit Temodal und ACNU behandelt. Es erfolgte eine weitere Operation am 02.12.2011 mit anschließender Therapie mit dendritischen Zellen und Temodal. Schließlich beantragte das Universitätsklinikum E-Stadt am 03.04.2013 die Kostenübernahme für die Erstbehandlung des Versicherten mit dem Arzneimittel Avastin bei Tumorprogress nach einer Magnetresonanztomografie des Schädels.
Der MDK kam in einer Stellungnahme vom 18.04.2013 zu dem Ergebnis, dass ein erneuter Therapieversuch mit Kamustin oder Temodal denkbar wäre. Avastin sei von der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) im November 2009 im Rahmen eines Zulassungsantrages negativ beurteilt worden. Seither seien keine neuen Studien publiziert worden. Ein positiver Einfluss von Avastin auf das Krankheitsbild des Versicherten könne daher nicht bestätigt werden. Alternativ wäre ein erneuter operativer Eingriff zu diskutieren.
Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 19.04.2013 die Kostenübernahme für Avastin ab. Sie begründet die Entscheidung damit, dass anderweitige zugelassene Zytostatika zur Verfügung stünden. Auch gebe es keinen auf Indizien gestützten Wirksamkeitsbeleg für das zur Anwendung kommende Arzneimittel.
Hiergegen erhob der Versicherte Widerspruch am 13.05.2013. Er trug vor, dass die herkömmlichen Behandlungsmethoden bei ihm ausgeschöpft seien. Das beantragte Medikament sei nachweislich wirksam und könne zur Lebensverlängerung beitragen.
Der MDK blieb in einer weiteren Stellungnahme vom 07.06.2013 bei seiner ursprünglich geäußerten Auffassung. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25.06.2013 zurück. Eine Kostenübernahme im Rahmen des Off-Label-Use komme nicht in Betracht, da keine Forschungsergebnisse vorlägen, die eine Zulassung des Arzneimittels für die betreffende Indikation erwarten ließen. Auch eine Kostenübernahme nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts komme nicht in Betracht, da kein auf Indizien gestützter Wirksamkeitsbeleg für Avastin vorliege. Vielmehr existiere bereits eine ablehnende Zulassungsentscheidung der EMA aus dem Jahr 2009. Seither seien keine neuen Studienergebnisse publiziert worden.
Hiergegen hat der Versicherte Klage erhoben zum Sozialgericht Bayreuth und vorgetragen, dass die herkömmlichen Behandlungsmethoden bei ihm ausgeschöpft seien. Die beantragte Medikation sei nachweislich wirksam und könne zur Lebensverlängerung beitragen.
Das Sozialgericht hat nach Anforderung von Befundberichten der behandelnden Ärzte ein Sachverständigenguta...