Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. bösartiger Hirntumor. Anspruch auf Arzneimittel Avastin im finalen Stadium. Arzneimittelrechtliche Zulassung. Phase-III-Studie. Positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Risiko-Nutzen-Abwägung
Leitsatz (amtlich)
Zum verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch in der GKV bei Tumorerkrankungen im finalen Stadium Avastin und medizinische Erkenntnisse bis 2012.
Normenkette
SGB V § 2 Abs. 1a, § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3; AMG § 25 Abs. 2 S. 1
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29. Mai 2013 insoweit aufgehoben, als die Beklagte zur Kostenfreistellung über den Zeitraum vom 22. Februar bis 20. Juni 2012 hinaus verurteilt wurde; im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten auch der Berufung.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf die Behandlung mit dem Medikament Avastin.
Die Klägerin, geboren 1963, leidet an einem Glioblastoma multiforme (Glioblastom), einem bösartigen Hirntumor, der im Jahr 2009 festgestellt wurde. Am 03.09.2009 erfolgte eine Tumorentfernung mit anschließender sechswöchiger Strahlen-Chemotherapie. Anfang 2010 wurde ein rasch wachsendes Rezidiv festgestellt, woraufhin eine erneute Teilrezession am 03.05.2010 stattfand. Ein völliges Entfernen des Tumorgewebes war nicht möglich, auch eine Strahlentherapie konnte nicht durchgeführt werden.
Das streitgegenständliche Medikament Avastin ist für die Behandlung bei rezidivierten Glioblastomen in über 30 Ländern zugelassen, darunter die USA und die Schweiz. Die Zulassung in den USA erfolgte auf der Grundlage von Daten nach der sog. BRAIN-Studie. Hierbei handelt es sich um eine in den USA durchgeführte, offene, multizentrische, nicht-vergleichende Phase-II-Studie mit 167 Patienten mit histologisch gesichertem Glioblastom, deren Krankheit nach einer ersten Behandlung mit Temozolomid und Bestrahlung fortgeschritten war. Das streitgegenständliche Medikament wurde in den USA im Rahmen einer sog. "beschleunigten" Zulassung durch zwei unkontrollierte Phase-II-Studien zugelassen, nachdem die Datenlage aus diesen Studien sehr vielversprechend war.
Das Herstellerunternehmen R. reichte im Dezember 2008 einen Zulassungsantrag für die Indikation des rezidivierten Glioblastoms bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) ein. Im November 2009 gab die EMA eine negative Stellungnahme ab (s. REFUSAL ASSESSMENT REPORT FOR AVASTIN, Procedure No. EMEA/H/C/582/II/0028), da keine Phase-III-Studie vorliege und in der BRAIN-Studie eine Vergleichsgruppe ohne Avastin-Therapie fehlte (s. hierzu http://www.R..com/de/media/media-releases/med-cor-2009-11-20.htm).
Inzwischen sind zwei große randomisierte placebokontrollierte Phase-III-Studien durchgeführt worden an jeweils über 800 Patienten. Eine davon ist die AVAglio-Studie, eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Phase-III-Studie zur Beurteilung der Wirksamkeit und des Sicherheitsprofils von Avastin in Kombination mit Strahlentherapie und Temozolomid-Chemotherapie nach einer Operation oder Biopsie bei Patienten mit neu diagnostiziertem Glioblastom (http://www.R..com/de/media/store/releases/med-cor-2013-06-01.htm). Die Resultate bestätigten, dass Patienten unter der Behandlung mit Avastin (Bevacizumab) plus Strahlentherapie und Temozolomid-Chemotherapie von einer signifikanten Verbesserung des progressionsfreien Überlebens profitierten, verglichen mit den Patienten, die Placebo plus Strahlentherapie und Temozolomid-Chemotherapie erhielten. Das Gesamtüberleben wurde in der Studie nicht signifikant verlängert.
Mit Schreiben vom 12.05.2010 beantragte die Uniklinik B-Stadt, Strahlenklinik, bei der Beklagten zu Gunsten der Klägerin die Kostenübernahme für eine ambulante Behandlung mit Avastin, gegebenenfalls mit Cetuximab. Als Therapieziel war das Aufhalten des Tumorprogresses angegeben, sowie die Verlängerung des Lebens durch die Gabe von Avastin von 10 mg pro Kilogramm Körpergewicht. Frau Dr. P. vom MDK äußerte daraufhin in einer Stellungnahme vom 10.6.2010, dass der Hersteller eine Zulassungserweiterung für das Arzneimittel beantragt habe, die durch die EMA am 19.11.2009 abgelehnt worden sei. Eventuell bestehe nochmals die Möglichkeit eines Versuchs anderweitiger Chemotherapie z.B. mit Carmustin oder Temodal. Daraufhin teilte die Beklagte mit Schreiben vom 11.06.2010 dem Uniklinikum B-Stadt, Strahlenklinik, mit, dass aufgrund der geltenden Rechtslage es nicht möglich sei, die Kosten für diese Therapie zu übernehmen. Dem folgte erneut ein Schreiben der Uniklinik B-Stadt vom 20.07.2010 mit einem wiederholten Antrag auf Kostenübernahme für Bevacizumab und Irinotecam. Die Beklagte teilte daraufhin mit Schreiben vom 05.08.2010 mit, dass nach den Ausführungen des MDK keine neuen Erkenntnisse vorlägen.
Zwischenzeitlich wurden bei der Klägerin alternative Behandlungsmethoden durchgeführt. Es folgte ein weiterer Antrag durch die Strahlenklinik Uniklinik...