Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens RF bei einer seelischen Störung. Geeignetheit eines Beweismittels
Leitsatz (amtlich)
Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass ein behinderter Mensch wegen einer mit einem Einzel-GdB von 50 bewerteten seelischen Störung an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann, stellt ein (Termins-)Gutachten eines Facharztes für Chirurgie kein geeignetes Beweismittel dar.
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 8. August 2018 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Nürnberg zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um das Vorliegen des Merkzeichens RF (Ermäßigung der Rundfunkgebühren).
Mit Bescheid vom 09.01.2006 stellte der Beklagte bei der am 09.02.1962 geborenen Klägerin aufgrund der näher bezeichneten Behinderungen "seelische Störung, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und verminderte Belastbarkeit der Hüftgelenke" einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 fest. Der Bescheid wies für die seelische Störung einen Einzel-GdB von 50 aus. Nachfolgende Anträge der Klägerin auf Feststellung eines höheren Gesamt-GdB blieben ohne Erfolg (Bescheide vom 19.04.2007, 04.02.2008, 06.02.2013), wobei sich an der Einschätzung des Einzel-GdB für die seelische Störung nichts änderte.
Am 18.01.2014 beantragte die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens "RF". Zur Begründung legte sie Atteste des Arztes für Neurologie und Nervenheilkunde Dr. Sch. (Sch) vom 08.10.2014 und der Allgemeinärztin Dr. G. (G) vom 01.10.2014 vor.
Mit Bescheid "nach § 48 SGB X" vom 10.12.2014 (Widerspruchbescheid vom 18.02.2015, berichtigt durch Bescheid vom 08.04.2015) lehnte der Beklagte die Zuerkennung des Merkzeichens RF ab. Diese Bescheide wurden bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 21.08.2017, beim Beklagten eingegangen am 22.08.2017, beantragte die Klägerin erneut die Zuerkennung des Merkzeichens "RF".
Mit Bescheid "nach § 48 SGB X" vom 04.12.2017 lehnte der Beklagte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme eine Änderung des Bescheides vom 18.02.2015 und die Zuerkennung des Merkzeichens RF ab. Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Feststellungsbescheides nach § 69 Sozialgesetzbuch - SGB - IX vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintrete, sei gemäß § 48 SGB X der Bescheid aufzuheben und eine neue Feststellung zu treffen. Die Prüfung des Antrags der Klägerin habe ergeben, dass in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Behinderung, des Grades der Behinderung und des Anspruchs auf Merkzeichen maßgebend waren, keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Nach Art und Ausmaß der Behinderung erfülle die Klägerin nicht die geforderten gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF. Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein mit dem Ziel, die Zuerkennung des Merkzeichens RF zu erreichen (Schreiben vom 09.12.2017). Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.01.2018 zurück.
Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Auf Aufforderung des SG, die behandelnden Ärzte zu benennen, hat die Klägerin mitgeteilt, ab Antragstellung hätten keine Arztbesuche mehr stattgefunden. Alle vom Amt anerkannten Behinderungen lägen dem Gericht vor, auch die drei fachärztlichen Atteste bezüglich Merkzeichen RF.
Mit Beweisanordnung vom 27.03.2018 hat das SG den Facharzt für Chirurgie Dr. S. (S) zum medizinischen Sachverständigen ernannt und die Klägerin mit ausweislich der aktenkundigen Postzustellungsurkunde am 29.03.2018 zugestelltem Schreiben vom 27.03.2018 zur Untersuchung am 26.04.2018 geladen. Mit Schreiben vom 30.03.2018 hat die Klägerin mitgeteilt, es seien eindeutig zahlreiche Verschlechterungen sowohl psychisch als auch physisch nachgewiesen und es bedürfe keiner demütigenden und schmerzhaften Untersuchung mehr. Zu der Untersuchung bei S ist die Klägerin nicht erschienen. S hat das Gutachten vom 26.04.2018 daraufhin nach Aktenlage erstellt. Die Klägerin hat eine Abschrift des Gutachtens zur Kenntnis erhalten und mit Schreiben vom 06.05.2018 dazu Stellung genommen.
Mit Urteil nach Lage der Akten vom 08.08.2018 hat das SG die Klage abgewiesen. Das Protokoll der Niederschrift vom selben Tag enthält den Vermerk: "Die Vorsitzende eröffnet die mündliche Verhandlung". Im Urteil hat das SG zur Begründung ausgeführt, zu Recht habe der Beklagte die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" abgelehnt. Die Klägerin mache geltend, an öffentlichen Veranstaltungen grundsätzlich nicht teilnehmen zu können und begründe dies mit ihrer seelischen Erkrankung und Schmerzstörung. Des Weiteren habe Sch bescheinigt, dass die Klägerin an einer Angststörung leide und daher nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Diese ärztliche Bescheinigung datiere aber ...