Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Impfschadensrecht. Impfung gegen Hepatitis A und Hepatitis B. Entzündung des Muskelbindegewebes. ursächlicher Zusammenhang. neuester medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand. Aluminiumverbindung im Impfstoff. Vergleich mit Aluminium-Exposition im Allgemeinen. Makrophagische Myofasziitis (MMF). Unterscheidung zwischen lokaler MMF und weitergehendem MMF-Syndrom. Kann-Versorgung. wissenschaftliche Lehrmeinung. medizinisch-biologisch nachvollziehbare Begründung. Untermauerung durch statistische Erhebungen

 

Orientierungssatz

1. Die Aluminium-Exposition aus Impfstoffen ist als gering einzuschätzen im Vergleich zu derjenigen, die über Trinkwasser, Lebensmittel oder Medikamente aufgenommen wird, und liegt deutlich unter der Menge, die täglich ein Leben lang ohne gesundheitsschädliche Wirkungen aufgenommen werden könnte.

2. Nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) im Bulletin für Arzneimittelsicherheit ist im Hinblick auf die Makrophagische Myofasziitis (MMF) klar zu trennen zwischen lokalen entzündlichen Veränderungen an der Impfstelle (lokale MMF) einerseits und dem MMF-Syndrom, dh systemischen, klinischen Symptomen (wie zB Myalgien - Muskelschmerzen -, chronische Müdigkeit, kognitive Dysfunktion) bis hin zu verschiedenen neurologischen Erkrankungen andererseits.

3. Zur Anerkennung eines Impfschadens genügt es in diesem Zusammenhang nicht, wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen einer lokalen MMF und einem MMF-Syndrom lediglich von einer Arbeitsgruppe ohne belegbare Daten postuliert wird, aber ansonsten in der allgemeinen Meinung der medizinischen Wissenschaft nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wird.

4. Für die Kann-Versorgung reicht nicht aus, wenn eine Lehrmeinung einen Ursachenzusammenhang nur behauptet. Vielmehr ist es erforderlich, dass diese Behauptung medizinisch-biologisch nachvollziehbar begründet und durch wissenschaftliche Fakten, die insbesondere auf statistischen Erhebungen beruhen, untermauert ist (vgl BSG vom 12.12.1995 - 9 RV 17/94 = SozR 3-3200 § 81 Nr 13).

 

Leitsatz (amtlich)

1. Im Impfschadensrecht sind wie allgemein im Versorgungsrecht alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Entscheidung neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten (vgl BSG vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R = SozR 4-3851 § 60 Nr 4 = juris RdNr 39 ff).

2. Nach dem aktuellen Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse ist ein Ursachenzusammenhang zwischen einer Impfung mit einem aluminiumhaltigen Impfstoff und einem als Impfschaden geltend gemachten sogenannten Makrophagische Myofasziitis Syndrom (MMF-Syndrom) in Form von Muskelschmerzen, chronischer Müdigkeit, kognitiver Dysfunktion und neurologischen Symptomen nicht im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung wahrscheinlich.

3. Der gegenwärtige medizinisch-wissenschaftliche Diskussionsstand zur Wirkung aluminiumhaltiger Impfstoffe erfüllt nicht die Voraussetzungen einer Kann-Versorgung gemäß § 60 Abs 1 IfSG iVm § 61

S 2 IfSG.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 07.07.2022; Aktenzeichen B 9 V 2/22 B)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 06.02.2013, berichtigt mit Beschluss vom 26.03.2013, aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Impfschadens und eine Beschädigtenversorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Die 1968 geborene Klägerin, Berufungsbeklagte und Berufungsklägerin (Klägerin) erhielt am 01.09.2004, am 01.12.2004 und am 28.09.2005 Impfungen gegen Hepatitis A und B mit dem Impfstoff Twinrix des Herstellers Glaxo Smith Kline.

Am 13.11.2006 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten, Berufungskläger und Berufungsbeklagten (Beklagter) eine Entschädigung nach dem IfSG. Sie leide insbesondere seit der dritten Impfung unter massiven gesundheitlichen Problemen. Am Tag der jeweiligen Impfungen habe sie sich schwach und müde gefühlt. Sie habe unter starken migräneartigen Kopf- und Gliederschmerzen gelitten und ihr sei übel gewesen.

Seit Dezember 2005 habe sich ihr Gesundheitszustand massiv verschlechtert. Ihre gewohnten sportlichen Aktivitäten fünfmal die Woche in Form von Mountainbiking, Joggen und Step Aerobic seien nicht mehr möglich gewesen. Seit Januar 2006 habe sich ihr Gesundheitszustand weiter verschlechtert. Sie habe sich schwach, müde und schwindelig gefühlt. Sie habe in den Händen und Füßen ein Kribbeln und Stechen gespürt, vor allem auf der rechten Körperseite, an der die letzte Impfung durchgeführt worden sei. Die ersten beiden Impfdosen seien auf der linken Seite injiziert worden. Sie habe nicht mehr richtig sehen, keine Treppen mehr laufen, den Alltag nicht mehr bewältigen und auch nicht mehr arbeiten können.

Vom 15. bis zum 17.02.2006 war die Klägerin ...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge