Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Jahresrechnung. kassenindividuelle Einschätzung des Haftungsrisikos. Widerspruch zur Transparenzfunktion der Rechnungslegung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine kassenindividuelle Einschätzung des Haftungsrisikos nach § 155 Abs 4 SGB V widerspricht der Transparenzfunktion der Rechnungslegung

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 08.10.2019; Aktenzeichen B 1 A 2/19 R)

 

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 25.09.2017 wird abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die aufsichtsrechtliche Verpflichtung, in der Jahresrechnung 2016 vorgenommene Schätzverpflichtungen wegen Haftungsrisikos für Schließungskosten gefährdeter Betriebskrankenkassen auszubuchen.

1. Die Klägerin ist eine bundesweite Krankenkasse iSd § 4 SGB V in der Kassenart einer Betriebskrankenkasse (§ 4 Abs. 2 Alt. 2 SGB V, im Folgenden "BKK") mit ca. 700.000 Mitgliedern und Sitz in A-Stadt. Nach dem Jahresrechnungsergebnis 2017 (§ 305b SGB V) lagen die Einnahmen und Ausgaben bei ca. 1,7 Mrd. €, das Vermögen bei ca. 117 Mio. €, wobei auf Rücklagen ca. 70,5 Mio. € entfielen, auf Betriebsmittel ca. 44,4 Mio. € und auf Verwaltungsvermögen ca. 2,4 Mio. €.

Die Klägerin nimmt seit 2011 Rückstellungen im Rahmen von Verpflichtungsbuchungen vor. Diese Rückstellungen basieren auf Schätzungen hinsichtlich des Haftungsrisikos bei Schließung anderer für Betriebsfremde geöffnete Betriebskrankenkassen (§ 155 Abs. 4 S. 4 SGB V). Sie variieren seit 2011 in ihrer Höhe (2011: 17 Mio. €, 2012: 12,4 Mio €, 2013: 30,765 Mio. €, 2014: 64 Mio. €, 2015: 69,05 Mio. €). Im Jahr 2016 wurden Rückstellungen in Höhe 65 Mio. € gebildet. Dies entsprach einer halben Monatsausgabe und ca. der Hälfte des Nettoreinvermögens der Klägerin. Zur Bestimmung der Höhe der Rückstellungen wurden nach Veröffentlichung der Jahresergebnisse das Vermögen der einzelnen BKK analysiert. Bei geringem Vermögen, d.h. unterhalb der gesetzlichen Mindestrücklage von 25% einer Monatsausgabe, wurde eine Einstufung als potenziell gefährdet vorgenommen und zu erwartende Umlagekosten mit der quotenmäßigen Schließungswahrscheinlichkeit ins Verhältnis gesetzt. Nach Ansicht der Klägerin lässt die Ergebnishistorie bestimmter Krankenkassen den Schluss zu, dass deren unzureichende Vermögensausstattung strukturell bedingt ist. Dies habe Anhebungen des Zusatzbeitrags und mangelnder Marktfähigkeit zu Folge, die letztlich zu deren Schließung oder Fusion führe.

Die streitgegenständlichen Schätzverpflichtungen sind im Konto (Kontenrahmen in Anlage 1 zu § 25 Abs. 2 Nr. 1 SRVwV, im Folgenden "Konto") unter Ziffer 1299 ("Übrige Verpflichtungen" ) gebucht. Dargelegt sind die Schätzungen im nicht veröffentlichten Anhang zur Jahresrechnung (gemäß § 29a Abs. 2 Nr. 2 SVHV, 2016 unter Punkt 3.2.2).

Das Jahresendergebnis 2016 der Klägerin durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft A&C geprüft und nicht beanstandet.

2. Im Rahmen einer Verwaltungsprüfung nach § 274 SGB V/§ 46 SGB XI der Jahresrechnung 2015, durchgeführt vom 12.04.- 03.06.2016, teilte der Prüfdienst der Klägerin am 08.06.2016 mit, dass er die streitgegenständlichen Verpflichtungsbuchungen für rechtswidrig halte und forderte sie zur Ausbuchung auf. Nach einer Besprechung der Beteiligten am 18.07.2016 wurde im Prüfbericht vom 27.10.2016 der Klägerin mitgeteilt, dass Schätzverpflichtungen nicht gebucht werden dürfen, solange keine Beträge für eingetretene Haftungsfälle vom GKV-Spitzenverband mitgeteilt wurden. Weitergehende Verpflichtungen aufgrund von Risikoeinschätzungen seien nach den Bestimmungen zum Kontenrahmen nicht zulässig. Mit Schreiben vom 07.12.2016 forderte die Beklagte die Klägerin zur Ausbuchung auf. Die Beteiligten tauschten sich im Folgenden im Rahmen der aufsichtsrechtlichen Beratung telefonisch und schriftlich aus. Dabei teilte die Klägerin mit, dass die Höhe der Buchungen zwar mit Ungenauigkeiten behaftet, eine Schließung bestimmter BKK jedoch mittelfristig hoch wahrscheinlich sei. Am 18.05.2017 fand ein weiterer Beratungstermin statt, der nicht zu einer Einigung der Parteien führte.

Am 25.09.2017 erließ die Beklagte einen aufsichtsrechtlichen Verpflichtungsbescheid gemäß §§ 89 Abs. 1 S. 2, 90 Abs. 1 S. 1 SGB IV. Die rechtswidrigen Verpflichtungsbuchungen für potentiell eintretende Haftungsfälle anderer Krankenkassen auf dem Konto 1299 seien bei der Erstellung der Jahresrechnung für das Jahr 2017 auszubuchen. Die Erfassung von künftigen Verbindlichkeiten durch Rückstellungen beschränke sich auf Rückstellungen zur Altersvorsorge. Die Bildung weiterer Rückstellungen würde die Einheitlichkeit der Rechnungslegung in der GKV einschränken. Der verbindliche Kontenrahmen sehe unter Konto 1298 vor, dass Buchungen für Haftungsumlagen nur nach entsprechenden Feststellungen des Spitzenverbands vorzunehmen sind. Das Vorsichtsprinzip knüpfe an Wahrscheinlichkeiten an, die Darstellungsfunktion der Jahresrechnung sei bei pessimistischer Darstellung des Vermögens ebenso ge...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge