Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesamtvergütung. Umstellung der Gesamtvergütungsvereinbarungen auf das Wohnortprinzip bei Krankenkassen mit überregionaler Versichertenzusammensetzung. Bestimmung des Ausgangsbetrags zur Vereinbarung der Gesamtvergütungen. Geltendmachung der Nichtigkeit einer gesamtvertraglichen Regelung durch eine einzelne Krankenkasse. Berechnung des Ausgangsbetrages. Verstoß gegen Treu und Glauben bei Rückabwicklung einer nichtigen Vereinbarung. Statthaftigkeit der Feststellungsklage

 

Orientierungssatz

1. Die Höhe der Gesamtvergütung wird im Gesamtvertrag mit Wirkung für die Krankenkassen der jeweiligen Kassenart, für die Verträge nach § 83 Abs 1 S 1 SGB 5 geschlossen sind, vereinbart (§ 85 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB 5). Mittels dieser Vorschriften wird dem zuständigen Landesverband der Krankenkassen mit der Übertragung der Abschlusskompetenz die Rechtsmacht zugewiesen, die beteiligten Krankenkassen zur Zahlung der auf sie entfallenden Gesamtvergütung an die KÄV zu verpflichten. Zugleich folgt daraus, dass die einzelne Krankenkasse in einem Rechtsstreit mit der KZV grundsätzlich keine gerichtliche Überprüfung der Wirksamkeit der gesamtvertraglichen Vereinbarung erreichen kann (vgl BSG vom 28.9.2005 - B 6 KA 71/04 R = BSGE 95, 141 Rdnr 9ff = SozR 4-2500 § 83 Nr 12 Rdnr 17ff und vom 28.9.2005 - B 6 KA 72/04 R; bestätigt durch Urteile vom 17.10.2007 - B 6 KA 34/06 R = SozR 4-2500 § 83 Nr 4 Rdnr 18 und vom 5.11.2008 - B 6 KA 55/07 R = SozR 4-2500 § 83 Nr 5).

2. Koordinationsrechtliche öffentlich-rechtliche Verträge iS von § 53 Abs 1 S 1 SGB 10, zu denen auch Gesamtverträge gehören, können nach § 58 Abs 1 SGB 10 nichtig sein, wenn sich die Nichtigkeit aus der entsprechenden Anwendung des BGB ergibt. Um den besonderen Bestandsschutz aller öffentlich-rechtlichen Verträge zu gewährleisten, kann ihre Nichtigkeit aber grundsätzlich nicht durch jeden Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift ausgelöst werden. Lediglich qualifizierte Rechtsverstöße können auch die Nichtigkeit eines entsprechenden Vertrages zur Folge haben, etwa wenn zwingende Rechtsnormen bestehen, die einer vertraglichen Gestaltung nicht zugänglich sind (Vertragsformverbot) oder wenn ein bestimmtes Ziel nicht durch einen Vertragsschluss erreicht werden darf, wenn also die Rechtsordnung den Inhalt des Vertrags als solchen missbilligt (Vertragsinhaltsverbot). Bei Vorliegen eines Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot ist daher weiter zu prüfen, ob dessen Verletzung einen qualifizierten Rechtsverstoß darstellt. Das kommt nur dann infrage, wenn Vorschriften offensichtlich missachtet worden sind, die alle Gesamtvertragspartner strikt binden. Dies wiederum setzt voraus, dass diese Vorschriften ein eindeutiges, aus sich heraus verständliches Verbot enthalten (vgl BSG vom 28.9.2005 - B 6 KA 71/04 R aaO, vom 28.9.2005 - B 6 KA 72/04 R aaO, vom 17.10.2007 - B 6 KA 34/06 R aaO und vom 5.11.2008 - B 6 KA 55/07 R aaO).

3. Zur Frage der Berechnung des Ausgangsbetrages nach Art 2 § 1 Abs 1 WOrtPrG (juris: ArztWohnortG) für die Vereinbarung der zu entrichtenden Gesamtvergütung.

4. Es liegt ein Verstoß gegen Treu und Glauben vor, wenn eine Krankenkasse - bevor eine Kassenzahnärztliche Vereinigung und ein Landesverband gesetzlicher Krankenkassen die Gelegenheit hatten, eine nichtige vertragliche Bestimmung durch eine rechtmäßige zu ersetzen - den sich aus der (Teil-)Nichtigkeit der Vereinbarung ergebenden Zahlungsbetrag einfordern kann.

5. Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung können juristische Personen, die durch untergesetzliche Normen in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen sind, unter bestimmten Voraussetzungen direkt eine Klage gegen diese Normen richten. Voraussetzung ist, dass nur auf diese Weise wirksamer Rechtsschutz erlangt werden kann und der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat (vgl BSG vom 3.2.2010 - B 6 KA 31/09 R = BSGE 105, 243 = SozR 4-2500 § 116b Nr 2).

 

Nachgehend

BSG (Rücknahme vom 27.06.2012; Aktenzeichen B 6 KA 32/11 R)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. Juni 2007 abgeändert und festgestellt, dass die Vereinbarung der Beklagten und des Beigeladenen vom 21. November 2002 zur Umsetzung der Einführung des Wohnortprinzips insoweit nichtig ist, als der Ausgangsbetrag für die Vereinbarung der Gesamtvergütung der Klägerin nicht entsprechend Art. 2 § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung des Wohnortprinzips bei Honorarvereinbarungen für Ärzte und Zahnärzte berechnet wurde.

II. Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

III. Die Beklagte und der Beigeladene tragen 2/3 der Kosten des Rechtsstreits, die Klägerin 1/3.

IV. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 11. Januar 2005 beim Sozialgericht München eine Klage eingereicht mit dem Antrag, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 1.011.331,53 Euro zu zahlen. Die Klägerin habe ihren Sitz in Hessen und sei zudem in keinem BKK-Landesverband Mitglied. Nach Art. 2 § 1 ...

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