Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Krankenkasse: Erstattung der Kosten einer immunologischen Kombinationstherapie eines Glioblastoma multiforme. Kausalität zwischen Systemmangel und Selbstbeschaffung. Prüfung des Vorliegens einer Aussicht auf Erfolg bei einer alternativen Behandlungsmethode
Leitsatz (amtlich)
1. Auch eine Unaufschiebbarkeit i.S.d. § 13 Abs. 3 Satz 1, 1. Alt. SGB V entbindet den Versicherten grundsätzlich – von Fällen mit ganz besonderer Eilbedürftigkeit abgesehen – nicht von seiner Obliegenheit, der Krankenkasse vor Inanspruchnahme der begehrten Leistung die Möglichkeit zur Prüfung und Erbringung im Wege der Sachleistung dadurch zu eröffnen, dass er die Krankenkasse über die beabsichtigte Inanspruchnahme der begehrten Therapie informiert. Anderenfalls entfällt die Kausalität zwischen Systemmangel und Selbstbeschaffung.
2. Die für die Gewährung einer Behandlung, die nicht im standardmäßigen Leistungskatalog der GKV enthalten ist, in grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungskatalogs der GKV bzw. nach § 2 Abs 1a SGB V notwendige Voraussetzung der indiziengestützten, nicht ganz fern liegenden Aussicht auf Heilung oder wenigstens spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf darf nicht überspannt werden. Umso schwerwiegender die Erkrankung und umso hoffnungsloser die Situation ist, desto geringere Anforderungen sind an die ernsthaften Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Behandlungserfolg zu stellen. Rein experimentelle Behandlungsmethoden, die nicht durch hinreichende Indizien gestützt sind, reichen hierfür nicht.
3. Bei der Prüfung des Vorliegens der auf Indizien gestützten, nicht ganz fern liegenden Aussicht auf Heilung oder zumindest auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf ist eine ex-ante-Betrachtung mit Blick auf die voraussichtlichen Erfolgschancen der Behandlung durchzuführen; eine rückblickende Beurteilung verbietet sich. Der konkrete Erfolg einer Behandlung ist daher kein maßgeblicher Gesichtspunkt.
4. Eine nach dem Ansatz des behandelnden Arztes aus mehreren Therapiemaßnahmen bestehende und abgestimmte Kombinationstherapie muss auch einheitlich bewertet werden. Aus Indizien für eine Wirksamkeit einer Teilmaßnahme lassen sich keine Indizien für eine Wirksamkeit der Kombinationstherapie ableiten.
5. Zur Behandlung eines Glioblastoma multiforme mit einer Immuntherapie mit onkolytischen Viren, kombinierter Hyperthermie (aktiv und passiv), dendritischen Zellen, Artesunaten sowie Thymus-Präparaten.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.06.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob dem Kläger die Kosten einer selbst beschafften Immuntherapie wegen eines Krebsleidens in Höhe von 44.029,54 € von der Beklagten zu erstatten sind.
Der Kläger ist im Jahr 1968 geboren und bei der Beklagten krankenversichert.
Im Januar 2011 wurde beim Kläger ein Glioblastoma multiforme diagnostiziert, das noch im selben Monat mikrochirurgisch entfernt wurde. Daran anschließend wurden Radiochemotherapien mit Temozolomid durchgeführt.
Am 16.05.2012 wurde kernspintomographisch ein Rezidiv diagnostiziert, das am 26.06.2012 operativ entfernt wurde. Der Empfehlung einer erneuten Therapie mit Temozolomid, alternativ CCNU/Procarbazin, folgte der Kläger nicht, sondern unterzog sich - so die Angaben des behandelnden Arztes für Allgemeinmedizin/Naturheilverfahren A. T. in seinem für den Kläger gestellten Antrag vom 13.05.2013 - einer Therapie mit insgesamt sechs Gaben von dendritischen Zellen (Dauer jeweils etwas über eine Woche) ab 28.08.2012 bis 01.02.2013, mit Boswellia serrata ab 12/2012 und einer Misteltherapie ab dem 28.12.2012.
Ein Rezidiv ist bis heute nicht mehr aufgetreten.
Mit Schreiben vom 13.05.2013, bei der Beklagten eingegangen am 16.05.2013, beantragte der Arzt A. T. für den Kläger die Kostenerstattung einer Immuntherapie mit onkolytischen Viren, kombinierter Hyperthermie (aktiv und passiv), dendritischen Zellen, Artesunaten (bei hoher Transferrinrezeptor-Dichte) sowie Thymus-Präparaten zur Immunmodulation. Zur Begründung des Antrags wies der Arzt T. auf Folgendes hin: Der Krankheitsverlauf des Klägers müsse als äußerst günstig bezeichnet werden. Die Immuntherapie sei mit hoher Wahrscheinlichkeit wirksam. Angesichts der insgesamt doch infausten Prognose seien alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die jetzt zur Verfügung stünden. Dazu zähle die Therapie mit onkolytischen Viren. Dass diese Therapie wissenschaftlich begründet sei, ergebe sich schon daraus, dass die Universität H-Stadt eine Studie damit durchführe. Im Falle des Klägers greife die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005. Es liege eine lebensbedrohliche Erkrankung vor. Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung stehe dafür nicht zur ...