Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft. Parteiwechsel auf Beklagtenseite. Bildung des Gesamtgrades der Behinderung. Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit. verspätete Benennung eines ärztlichen Sachverständigen eigener Wahl

 

Leitsatz (amtlich)

Der Wohnsitzwechsel eines Menschen mit Behinderung im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens bedingt bei Änderung der Zuständigkeit der Feststellungsbehörde einen entsprechenden Parteiwechsel auf Beklagtenseite.

Bei Einzel-GdB-Werten von 30, 20, 10 und 10 beträgt der Gesamt-Grad der Behinderung (GdB) im Regelfall 30 oder wie hier 40, nicht jedoch 50. Eine Funktionsstörung bzw. Funktionseinschränkung darf nicht doppelt in die Bildung des Gesamt-GdB einfließen, auch wenn sie aus unterschiedlicher fachärztlicher Sicht beurteilbar ist.

Eine etwaige besondere berufliche Betroffenheit ist im Schwerbehindertenrecht nicht GdB-erhöhend zu berücksichtigen.

Die Benennung eines ärztlichen Sachverständigen eigener Wahl erst in der mündlichen Verhandlung ist verspätet.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 12.11.2019; Aktenzeichen B 9 SB 58/19 B)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 05. September 2016 aufgehoben und der Bescheid vom 11. August 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03. Februar 2015 insoweit abgeändert, als der Beklagte verurteilt wird, mit Wirkung ab 27. Mai 2014 einen GdB von 40 festzustellen.

II. Der Beklagte erstattet die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zur Hälfte.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der 1953 geborene Kläger begehrt die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft im Sinne von §§ 2 Abs. 2, 152 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50.

Der vormals in P-Stadt wohnhaft gewesene Kläger wies mit Erstantrag vom 27.05.2014 auf folgende bei ihm bestehende Funktionsstörungen hin: Starke Depressionen, Osteoporose, starke ständige Rückenschmerzen im Sitzen, Stehen und Liegen, Sinterungsfraktur LWK 3 und Fischwirbelfraktur BWK 11. Der behandelnde Neurologe Dr. G. bestätigte mit Befundbericht vom 09.06.2014 das Vorliegen einer depressiven Episode. Die Orthopädengemeinschaft A. beschrieb mit Befundbericht vom 24.06.2014 die bei dem Kläger auf ihrem Fachgebiet vorliegenden Funktionsstörungen, insbesondere Schmerzen im LWS-Bereich.

Das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) stellte mit Bescheid vom 11.08.2014 einen GdB von 20 unter Berücksichtigung nachstehender Gesundheitsstörungen fest: Depression (Einzel-GdB 20); Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, mit Verformung verheilter Wirbelbruch, Osteoporose (Einzel-GdB 10).

Der Kläger hob mit Widerspruch vom 04.09.2014 hervor, dass die bei ihm vorliegende Depression nicht ausreichend bewertet worden sei. Dies gelte vor allem für die bestehenden Existenzängste. Auch seien die schmerzbedingten Folgen der beiden Wirbelbrüche nicht angemessen berücksichtigt worden. Der Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie B. machte Dr. G. mit Arztbrief vom 18.10.2014 darauf aufmerksam, dass der Kläger nach einer kontinuierlichen beruflichen Karriere mit zuletzt Aufstieg zum Finanzchef eines international agierenden Konzerns der Solarbranche Anfang 2013 im Rahmen einer Strukturkrise der Branche mit Insolvenz seines Unternehmens erstmalig in seinem Leben arbeitslos geworden sei. Deswegen leide er an einer gegenwärtig schweren depressiven Episode verbunden mit Existenzängsten. Die erstmalige Arbeitslosigkeit nach erfolgreicher Karriere wirke als massive narzisstische Kränkung, da der Selbstwert ausschließlich über die berufliche Sozialisation definiert gewesen zu sein scheine.

Das ZBFS half dem Widerspruchsbegehren mit Widerspruchsbescheid vom 03.02.2015 insoweit ab, als der GdB auf 30 angehoben wurde. Maßgeblicher Grund hierfür war die Bewertung der Gesundheitsstörung Depression mit nunmehr einem Einzel-GdB von 30 bei gleichbleibender Bewertung der orthopädischen Erkrankungen mit einem Einzel-GdB von 10.

Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schriftsatz vom 19.02.2015 Klage zum Sozialgericht Regensburg (SG) erhoben und die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit einem GdB von mindestens 50 beantragt. Gerade die Tatsache, dass neben der ärztlichen Behandlung noch eine begleitende verhaltenstherapeutische Behandlung erfolge, zeige, dass es sich um ein gravierendes behinderungsrelevantes Krankheitsbild handele. Vor allem seien die bei dem Kläger vorhandenen Existenzängste überhaupt nicht berücksichtigt worden. Auch die Schmerzproblematik aufgrund des Wirbelsäulenbefundes sei nicht berücksichtigt worden. Zudem bestehe ein weiterer Aufklärungsbedarf hinsichtlich eines Schulter-Arm-Syndroms. Auch die Intensität der Osteoporose sei nicht richtig ermittelt worden.

Das SG hat die Behindertenakten des ZBFS beigezogen und aktuelle Befunde mit ...

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