Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente wegen Erwerbsminderung. Feststellung der Erwerbsminderung. Eintritt des Leistungsfalls. schleichende Erkrankung. Multiple Sklerose

 

Leitsatz (amtlich)

Notwendigkeit der Feststellung der Erwerbsminderung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit. Eintritt des Leistungsfalls muss zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen.

 

Orientierungssatz

Für einen mehr als zehn Jahre zurückliegenden Zeitpunkt kann eine Erwerbsminderung (hier aufgrund einer Multiple Sklerose-Erkrankung) nur aufgrund von aussagekräftigen, medizinischen Befunden und Unterlagen getroffen werden. Eine persönliche Untersuchung bei einer schleichend, fortschreitenden Erkrankung kann diese Befunde und Unterlagen nicht ersetzen.

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 04.12.2006 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 10.01.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2005 abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung auf Grund eines Leistungsfalles, der spätestens am 01.01.1997 eingetreten ist, hat.

Die 1962 geborene Klägerin schloss eine Lehre zur Verkäuferin ab. Zuletzt war sie als Schuhverkäuferin, Zimmermädchen und Elektrolöterin bis 1982 erwerbstätig. Für die 1983 und 1985 geborenen Kinder der Klägerin sind bis zum 30.11.1986 Pflichtbeiträge für Kindererziehung im Versicherungsverlauf gespeichert. Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung enthält der Versicherungsverlauf vom 14.04.1983 bis zum 04.11.1995. Insgesamt entrichtete die Klägerin 74 Monate an Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung.

Am 29.12.2000 stellte die Klägerin erstmals einen Antrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. In diesem Antrag gab sie an, dass sie seit dem 01.01.1990 an Multipler Sklerose erkrankt und deshalb erwerbsgemindert sei. Die Beklagte beauftragte den Neurologen und Psychiater Dr. H. mit der Begutachtung der Klägerin. Dieser untersuchte die Klägerin am 20.08.2001 und stellte in seinem Gutachten fest, dass die Klägerin an Multipler Sklerose mit einer Sehminderung rechts leide. 1990 sei offenbar erstmals ein Schub mit Taubheitsgefühlen beider Hände, Doppelbildern und Gangunsicherheit aufgetreten. 1992 sei eine schwere Sehnervenentzündung rechts, wobei eine hochgradige Sehminderung verblieb, eingetreten. In der Folgezeit seien dann mehrfache flüchtige Entzündungsschübe ohne gravierende Folgen aufgetreten. Neurologisch sei auffällig, dass im Bereich der Hirnnerven eine hochgradige Sehminderung rechts eingetreten sei. Es werde nur hell und dunkel unterschieden, die Pupille rechts sei abgeblasst. Weitere Hirnnervenausfälle konnte Dr. H. zu diesem Zeitpunkt nicht feststellen. Zusammenfassend ging er davon aus, dass außer der Sehminderung kein schwerwiegendes neurologisches Defizit bestehe und die Klägerin leichte bis zeitweilig mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als sechs Stunden täglich verrichten könne. Unzumutbar seien Arbeiten mit besonderen Anforderungen an das beidseitige Sehvermögen und solche mit besonderen Anforderungen an den Gleichgewichtssinn. Tätigkeiten überwiegend im Freien mit Einwirkung von Kälte, starken Temperaturschwankungen, Zugluft und Nässe seien ebenfalls nicht zweckmäßig.

Auf dieses Gutachten hin lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin mit Bescheid vom 07.09.2001 ab, da diese in den letzten fünf Jahren nicht drei Jahre an Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nachgewiesen habe. Außerdem wäre die Klägerin weder teilweise noch voll erwerbsgemindert. Den hiergegen erhoben Widerspruch wies die Beklagte mit bestandskräftigen Widerspruchsbescheid vom 19.02.2002 zurück.

Am 20.07.2004 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Beklagte beauftragte den Neurologen und Psychiater Dr. K. mit der Untersuchung und Begutachtung der Klägerin. Dieser untersuchte am 09.12.2004 die Klägerin und stellte in seinem Gutachten vom 16.12.2004 fest, dass die Klägerin seit etwa 15 Jahren an Multipler Sklerose erkrankt sei. Eine volle Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei mit Sicherheit nicht mehr gegeben. Theoretisch könnte sie leichte Frauenarbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit vielen Einschränkungen wie reduziertem Sehvermögen, Gang, Stand, fehlende Muskelkraft, Zielbewegungen usw. verrichten. An einem behindertengerechten Arbeitsplatz könne sie sicherlich nicht länger als drei bis vier Stunden täglich arbeiten. Mit Bescheid vom 10.01.2005 erkannte die Beklagte das Bestehen einer teilweisen Erwerbsminderung seit dem 20.07.2004 an, lehnte den Rentenantrag jedoch wegen der fehlenden besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen ab. Im maßgeblichen Zeitraum vom 20.07.1999 bis zum 19.07.2004 sei kein Monat mit entsprechenden Pflichtbeiträgen belegt.

Gegen die...

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